Erst noch galt sie als schrille Göre, die ihre EU-feindlichen Parolen ins Mikrofon schreit. Inzwischen hat sie sich im Ton beruhigt, schlägt Pro-EU-Töne an und küsst sich mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (65) und US-Präsident Joe Biden (81). Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni (47) hat sich seit ihrem Amtsantritt im Oktober 2022 stark gewandelt.
Der 163 Zentimeter grossen Regierungschefin der Partei Fratelli d’Italia ist es so gelungen, ihren Einfluss europaweit auszubauen. Ihr Ziel für die EU-Parlamentswahlen vom 9. Juni: eine rechte Mehrheit. In einem Interview auf Rai Radio 1 sagte sie: «Heute gibt es Möglichkeiten, das Bild Europas zu verändern, die es vorher nicht gab. Wir sind es uns selbst schuldig, sie zu nutzen.»
Von der Leyen mit den Rechten
Damit gibt sie den Tarif durch: Italien will nicht mehr Frankreich oder Deutschland hinterherhinken, sondern selber den Ton in Europa angeben. Dieses wachsenden Machteinflusses sind sich andere Spitzenpolitiker bewusst. So wurde Meloni in den vergangenen Wochen besonders von Ursula von der Leyen und der französischen Rechtspopulistin Marine Le Pen (55) umgarnt.
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Von der Leyen, die in ihrem Amt als EU-Kommissionspräsidentin bestätigt werden will, schliesst eine Zusammenarbeit ihrer bürgerlichen Europäischen Volkspartei (EVP) mit den rechten Europäischen Konservativen und Reformisten (EKR) nicht mehr aus. Die EKR umfassen rechtsextreme, euroskeptische und rechtspopulistische Kräfte wie Melonis Fratelli d'Italia, die polnische PiS, die spanische Vox, die belgische Neue Flämische Allianz, das tschechische Bürgerforum, die Schwedendemokraten und die Finnenpartei.
Marine Le Pen vom französischen Rassemblement National bezeichnet einen Schulterschluss mit Meloni als «wirklich hilfreich» und säuselte vor wenigen Tagen: «Jetzt ist der Moment, sich zu vereinen.» Le Pens Partei gehört im EU-Parlament der rechten Fraktion Identität und Demokratie (ID) an, die eben die deutsche AfD wegen Rechtsextremismus ausgeschlossen hat.
Rechte werden zuschlagen
Umfragen von Euronews sagen voraus, dass die beiden rechten Fraktionen ohne die AfD zusammen bis zu 144 der insgesamt 720 Sitze erringen könnten. Damit würden sie – wenn sie sich zusammenschliessen – die Mitte-Links-Partei und die Liberalen überholen und hinter der EVP zur zweitgrössten politischen Kraft im Parlament werden.
Sympathien in der europäischen Mitte bringt Meloni auch ihre Haltung zum Krieg in der Ukraine. Im Gegensatz zu andern Rechtsparteien wie etwa der AfD und der ungarischen Fidesz ist sie klar pro-ukrainisch eingestellt und hat die Sanktionen gegen Moskau immer unterstützt.
Die Königsmacherin
Für Jonathan B. Slapin (44), Professor für politische Institutionen und europäische Politik an der Uni Zürich, steht fest: «Meloni ist eine äusserst begabte Politikerin. Sie spielt im Moment in der europäischen Politik eine sehr wichtige Rolle.»
Es sei ihr gelungen, auf den Mainstream eine gewisse Anziehungskraft auszuüben und sich auf der Weltbühne der Mitte zuzuwenden. Gleichzeitig habe sie im eigenen Land die Unterstützung durch die radikaleren Randgruppen aufrechterhalten und sogar fördern können.
Melonis grosse Herausforderung im Europaparlament werde sein, die vielfältige EKR-Fraktion zusammenzuhalten. «Sie sind sich einig über eine harte Einwanderungspolitik und sind im Allgemeinen sozialkonservativ. Darüber hinaus gibts aber wenig Übereinstimmung, wie etwa in der Ukraine-Politik.»
Mit ihrem Einfluss dürfte Meloni zur europäischen Königsmacherin werden. Slapin: «Melonis Unterstützung und die Stimmen aus ihrer EKR-Fraktion werden für von der Leyen sehr wichtig sein.»