Bei den Wahlen in Russland interessiert eigentlich nur eines: mit viel Prozent der Stimmen der amtierende Präsident Wladimir Putin (71) wiedergewählt wird. Dass ein anderer Kandidat gewinnt, ist bei den Scheinwahlen, die von Freitag bis Sonntag stattfinden, ausgeschlossen.
Der in Berlin lebende russische Autor Wladimir Kaminer (57) setzt sich intensiv mit seiner alten Heimat auseinander, aus der er kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion geflüchtet war. Besonders in Erinnerung ist ihm eine Bestrafung als Soldat, weil er den deutschen Hobbypiloten Mathias Rust bei dessen Landung auf dem Roten Platz nicht gestoppt hatte.
Blick: Sie leisteten in der sowjetischen Raketenabwehr Militärdienst, als es 1987 dem deutschen Hobbypiloten Mathias Rust gelang, mit einer Cessna auf dem Roten Platz zu landen. Wie konnten Sie ihn übersehen?
Wladimir Kaminer: Wir waren eine Raketenabwehrzentrale für tief fliegende Ziele im zweiten Verteidigungsring. Unsere Aufgabe bestand darin, grosse amerikanische Bomber wie B-1B und B52 abzufangen – nicht irgendwelche kleinen Cessnas, von denen es um Moskau herum im Übermass gab und mit denen jeder Kolchosenvorsitzende seine Tante im Nachbardorf besuchte.
Wurden Sie bestraft?
Wir wurden komplett auseinandergenommen. Und dann hat man uns in Busse gesetzt und rund um Moskau herum gefahren, bis wir wieder bei unserer Zentrale ankamen und weiterarbeiten konnten. Es gab damals keine anderen Soldaten mit dieser speziellen Ausbildung.
1991 brachte der Zerfall der Sowjetunion den Russen neue Hoffnung. Warum sind Sie dennoch in die DDR geflohen?
Wir waren in einem totalitären Staat aufgewachsen, in einer Diktatur, die uns ständig vorschreiben wollte, was wir zu lesen und was wir zu tun hatten. Meiner Generation stellte sich die Frage gar nicht, ob man bleiben oder gehen wollte. Es ist, wie wenn ich im Knast sitze: Ich frage mich nicht, warum ich von hier rauswill, wenn ich ja täglich zweimal warmes Essen erhalte. Man ergreift jede Möglichkeit, rauszukommen.
Warum in die DDR?
Wir dachten automatisch, dass überall, wo nicht die Sowjetunion ist, das Leben ein Paradies sein muss.
Mit seinen Erzählbänden «Militärmusik» und «Russendisko» hat sich der russische Schriftsteller Wladimir Kaminer (57) international einen Namen geschaffen. Zwischen 1985 und 1987 leistete der Sowjetbürger jüdischer Herkunft in einer Raketenstellung vor Moskau Militärdienst. Nach einem Studium der Theater-Dramaturgie erhielt er den DDR-Pass und wurde Deutscher. Er ist mit der russischen Autorin Olga Kaminer (58) verheiratet und Vater zweier Kinder. Die Familie lebt in Berlin-Prenzlauer Berg. Sein neuestes Buch heisst «Frühstück am Rande der Apokalypse», im August erscheint «Mahlzeit! Geschichten von Europas Tischen».
Mit seinen Erzählbänden «Militärmusik» und «Russendisko» hat sich der russische Schriftsteller Wladimir Kaminer (57) international einen Namen geschaffen. Zwischen 1985 und 1987 leistete der Sowjetbürger jüdischer Herkunft in einer Raketenstellung vor Moskau Militärdienst. Nach einem Studium der Theater-Dramaturgie erhielt er den DDR-Pass und wurde Deutscher. Er ist mit der russischen Autorin Olga Kaminer (58) verheiratet und Vater zweier Kinder. Die Familie lebt in Berlin-Prenzlauer Berg. Sein neuestes Buch heisst «Frühstück am Rande der Apokalypse», im August erscheint «Mahlzeit! Geschichten von Europas Tischen».
Einige Jahre später kam Putin an die Macht. Viele hatten die Hoffnung, dass sich das Leben ändern würde.
Hoffnung ist ein gutes Gefühl, kann aber eine funktionierende Demokratie nicht ersetzen. Die Bevölkerung Russlands hatte unter Putin keine politischen Instrumente, um auf die Führung einzuwirken. Man muss sich Russland in zwei Welten vorstellen: 140 Millionen Menschen wohnen auf der Erde, während sich ein paar Tausend, zu allem entschlossene und gut bewaffnete Personen da oben im Kreml-Türmchen verbarrikadieren.
Was halten Sie von Wladimir Putin?
Mit ihm ist etwas passiert, das sehr typisch ist für autoritäre Herrscher, die zu lange in einem von der Aussenwelt abgeschotteten Raum leben. In seinem Bunker haben ihn nur wenige Freunde besucht, die ihm wohl falsche Bücher in die Hand drückten.
Welche meinen Sie?
Es gibt in Russland diese Romane mit alternativer Geschichtsschreibung. Ein sowjetischer KGB-Agent reist durch die Zeit zurück und landet beim Zaren. Putin hat sich mit diesem Schund identifiziert und ist auf die Idee gekommen, die Weltordnung zu ändern. Ich glaube auch, dass die Corona-Zeit dazu beigetragen hat.
Wie beurteilen Sie seine Lage?
Putin steckt in einer ziemlich ungesunden Situation: hinten ein Loch, vorne eine Wand.
Haben Sie ihn schon getroffen?
Ja klar. Wir waren in Deutschland beim Bundespräsidenten. Er war ja nicht immer ein Feind des Westens, sondern kam gerne auf Staatsbesuch. Wir haben uns die Hand geschüttelt.
Glauben Sie, dass er auch seine guten Seiten hat?
Ich glaube, dass er privat wahrscheinlich ganz in Ordnung ist. Aber zum Freund möchte ich ihn nicht haben. Ich mag diese Generation der sowjetischen Frührentner der Staatssicherheit nicht. Die heissen in Russland Garagenrentner. Es sind Leute, die noch fit sind, aber nicht mehr arbeiten müssen. Also sitzen sie hinter der Garage mit einem Bier und sagen, dass Amerika spinne.
Wie nehmen die Russen Putin wahr?
Sie mögen den Krieg nicht. Sie ergreifen jede Möglichkeit, ihren Unmut zu äussern, wenn es ohne Gefahr geschehen kann.
Nach den Wahlen von 2011 demonstrierten Hunderttausende gegen die Regierung. Warum heute nicht?
Damals war das Regime noch nicht so radikal. Damals hat es die Demonstranten einfach mit Gummiknüppeln geschlagen. Heute werden sie umgebracht. Selbst, wenn sie nur von Frieden reden, ist das eine Verschmähung der russischen Streitkräfte, wofür bis zu 15 Jahre Knast drohen.
Engagieren Sie sich in der Opposition?
Ich habe versucht, hier in Deutschland für die vielen oppositionellen Journalisten eine neue Lebensgrundlage zu finden. Mit ihnen werden die Russen aus dem Ausland besser über ihr eigenes Land informiert als von den staatlichen Propagandamedien. Ich habe auch mitgeholfen, Medien zu gründen.
Gibt es etwas, das Ihnen Hoffnung macht?
Es gibt in Russland viele Menschen, die auch da oben sitzen und die mit dieser Politik nicht einverstanden sind. Es braucht für sie eine Exit-Strategie. Die Erkenntnis darüber, dass man Verbündete suchen muss in Russland, dass man diesen Krieg nur im Kreml und nicht auf dem Schlachtfeld in der Ukraine zu Ende bringen kann, gewinnt in Europa langsam an Gewicht. Wir werden bald Veränderungen sehen.
Was glauben Sie, wie lange der Krieg noch dauern wird?
Er kann nicht mehr lange dauern, weil auf beiden Seiten schlicht die Menschen fehlen. So viele Helden kann kein Land produzieren, Russland schon gar nicht.
Wenn Sie Putin sehen würden, was würden Sie ihm sagen?
Mensch, hör auf. Hab Mut, deinen Fehler zuzugeben. Jeder macht Fehler.