Der Krieg ist in Russland angekommen. Am Dienstag wurde das Herz des Landes – die Hauptstadt Moskau – von mindestens acht grossen Langstrecken-Drohnen angegriffen. Und die Angriffe reissen nicht ab: Am Mittwochmorgen berichten russische Nachrichtenagenturen von erneuten Drohnenangriffen auf die russische Grenzstadt Brjansk.
Kremlchef Wladimir Putin (70) macht die Ukraine für diese Angriffe verantwortlich. Die Regierung in Kiew dementiert diese Anschuldigungen immer wieder, so auch im Falle der Drohnenangriffe auf Moskau. Abwegig ist die Vermutung, dass die Ukraine hinter den Angriffen steckt, aber nicht.
Ukraine steckt wahrscheinlich hinter Angriffen
Das findet Militärexperte Ralph D. Thiele (69) vom Institut für Strategie-, Politik-, Sicherheits- und Wirtschaftsberatung (ISPSW) in Berlin. Eine Operation unter falscher Flagge von Russland schliesst er aus. «Die Erfahrung macht deutlich, dass es kein anderer Akteur gewesen sein kann.»
So geht der US-Geheimdienstbeispielsweise davon aus, dass der Drohnenangriff auf den Kreml von Anfang Mai von ukrainischen Truppen durchgeführt wurde. Und Kyrylo Budanow (37), der Direktor des ukrainischen Militärgeheimdienstes, kündigte am Montag Vergeltung für die russischen Angriffe auf die ukrainische Hauptstadt Kiew und den Hauptsitz des ukrainischen Geheimdienstes an.
Drohnenangriffe auf russischen Boden häufen sich. Aber warum? Thiele erklärt: «Die Ukraine versucht, Kampfhandlungen in anderen Bereichen zu kompensieren.» Grund dafür seien laut Thiele die langsamen Waffen- und Munitionslieferungen aus dem Westen. «Darum muss die Ukraine auf Alternativen zurückgreifen.» Wie beispielsweise die hybride Kriegsführung, wozu auch die Drohnenangriffe gezählt werden können.
Mit den Angriffen auf Russland könnte die Ukraine aber ein Versprechen brechen, das sie dem Westen gegeben hat. Die westlichen Alliierten haben dem Land ihre Unterstützung gegeben – unter einer Bedingung: Russland soll nicht angegriffen werden. Denn man fürchtet sich vor den Reaktionen des Kremls.
Experte warnt vor Ausweitung des Kriegs
Zurecht, so Thiele. «Wir rutschen sehendes Auges in eine Ausweitung dieses Krieges rein.» Denn Russland könnte mit heftigen Angriffen reagieren. Putin kündigt in einem Interview am Dienstagabend an: «Die Angriffe können eine Reaktion Russlands provozieren. Dem soll sich die Ukraine bewusst sein.»
Zwar wurde Moskau wohl nicht mit westlichen Waffen angegriffen. Waffenanalysten wie Dmitri Alperovitch vermuten auf Twitter, dass die Angriffe mit einer ukrainischen UJ-22s getätigt wurden. Trotzdem könnte Russland auch den Westen verantwortlich machen – schliesslich versorgen Alliierte die Ukraine auch mit Technik. Thiele warnt: «Der Krieg weitet sich schleichend aus.»
«Westen muss an seiner Unterstützung festhalten»
Im Klartext heisst das: Russland könnte bald damit beginnen, auch Nachbarländer der Ukraine anzugreifen. Mit «hybriden Kampagnen», wie das Thiele nennt. Was er damit meint: Angriffe auf wichtige Infrastruktur und Desinformationskampagnen.
Um eine solche Eskalation zu vermeiden, müsse der Westen weiter an seiner Unterstützung für die Ukraine festhalten. Schliesslich hat die Ukraine im Verständnis der ganzen Welt aktuell die Aufgabe, so Thiele, nicht nur sich selbst, sondern auch den ganzen Westen zu verteidigen.