Eklat im russischen Fernsehen: Der Soziologe Aleksei Roschin (55) hat in der politischen Diskussionsrunde «Mesto Wstretschi» (Deutsch: Treffpunkt) den Krieg in der Ukraine scharf kritisiert – und zwar nicht irgendwo, sondern auf dem Staatssender NTW.
«Ich verstehe nicht, wie wir von einer gerechten Weltordnung sprechen können, wenn wir in der Ukraine Kraftwerke und Infrastruktur zerstören», sagte Roschin völlig entsetzt, als es um die Bombardierung energetischer Infrastruktur ging. Sofort wird er von dem Moderator Andrei Norkin (54) unterbrochen. «Er war lange nicht mehr hier und musste sich die Worte von der Seele reden. Jetzt kommt er hier her und erzählt Scheisse», wandte der Moderator sich an das Publikum.
Roschin ignorierte die Beleidigung und wetterte weiter gegen den Krieg. «Das ist Grausamkeit und Sadismus gegen ein friedliches Volk! Das ist ein Krieg gegen die Menschen», versuchte er es erneut, während die Moderatoren ihm immer wieder ins Wort fielen.
«Was Sie da sagen, interessiert niemanden»
Doch davon zeigte sich der 55-Jährige unbeeindruckt. «Als Bürger bin ich dafür verantwortlich. Aber ich habe die Bombardierung ukrainischer Kraftwerke nie abgesegnet», versuchte Roschin erneut, seinen Standpunkt auszusprechen. «Wenn Sie es nicht abgesegnet haben, können wir ja alle nach Hause gehen», erwiderte der Co-Moderator Iwan Truschkin (37) herablassend.
«Wir verstehen alle, dass Sie zurück ins Fernsehen wollten, ich befürchte aber, sie haben den falschen Weg gewählt. Was Sie da sagen, interessiert niemanden mehr», beendete Norkin die Diskussion. Den Rest der Sendung ignorierte man den eingeladenen Diskussionsgast.
Nach der Sendung entschuldigt
Roschin gilt als Experte für Politik und Sozialpsychologie. Er war in der Vergangenheit schon öfters Gast der Talkshow «Mesto Wstretschi». Doch der Auftritt am Sonntag war der erste in fünf Jahren. Roschin verfasste auf Facebook einen Post, indem er die Situation erklärte.
Er habe die Produzenten der Show gewarnt, dass er mit vielen politischen Entscheidungen nicht einverstanden sei. Man versicherte ihm, dass das kein Problem sei und man ihm dennoch mindestens drei Fragen stellen würde. Letztlich bekam er knapp zwanzig Sekunden der einstündigen Sendung. Der Moderator Norkin habe sich anschliessend bei ihm entschuldigt.
Er könnte in den Knast kommen
Dabei war Roschin nicht der einzige Gast, der die Angriffe der Russen in der Ukraine verurteilte. «Das Problem ist, dass internationales Recht verletzt wurde», erklärte der Politologe Alexander Sytin (64) zu Beginn der Diskussion. Und weiter: «Die territoriale Integrität eines souveränen Staats wurde am 24. Februar verletzt». Russland habe Grenzen überschritten und das sei ein grosses Problem. Die ukrainische Kampfbereitschaft sei nicht zu brechen.
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Der Fall erinnert ein wenig an Marina Owsjannikowa (44), die während der russischen Nachrichten ein Plakat in die Höhe hielt und den Krieg kritisierte. Welche strafrechtlichen Folgen Roschins Aussagen im Staatsfernsehen haben werden, ist unklar. Allerdings ist es in Russland verboten, die «Spezialoperation» Krieg zu nennen. Das kann mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden. Auch ist es möglich, dass der Soziologe bewusst eingeladen wurde, um gedemütigt zu werden, und um seine Meinung als «falsch» darzustellen. (jwg)