Sie sitzen vor ihren Häusern. Trauern um verstorbene Verwandte. Manche suchen in den Trümmern nach ihren Liebsten, in der verzweifelten Hoffnung, dass diese noch leben. Die Szenen, die sich dieser Tage in der Stadt Antakya am südlichsten Zipfel der Türkei abspielen, sind schwer zu fassen. Die Stadt, so gross wie Zürich, ist praktisch ausradiert. Fährt man durch sie hindurch, sieht man vor allem Trümmerhaufen. Zerstörte Strassen. Chaos.
Nach den verheerenden Erdbeben vom Montag sind die Todeszahlen mittlerweile im fünfstelligen Bereich angekommen. Über 17'000 Menschen wurden für tot erklärt, Zehntausende weitere wurden verletzt oder werden vermisst.
Das gesamte Katastrophengebiet ist grösser als die Schweiz (siehe Karte). Die Provinz Hatay befindet sich weniger als 200 Kilometer Luftlinie von den Epizentren entfernt. Hier suchen Rettungshelfer, darunter auch eine Schweizer Delegation, seit Dienstagmorgen ununterbrochen nach Verschütteten und Vermissten. «Überall wird nach Überlebenden gesucht, die Bagger räumen praktisch rund um die Uhr Trümmerhaufen weg. Wir haben Menschen klopfen gehört, die im Schutt begraben liegen. Wir hörten Stimmen in den Trümmern», erzählt Blick-Reporter Benjamin Fisch.
Ayten (58) sitzt zusammen mit ihrem Neffen auf der Strasse. Ihr Haus ist zerstört. Neben ihr liegt ein Teppich. Darin eingewickelt ist ihr Bruder. Er ist tot. Aytens Schwester ist noch unter den Trümmern begraben. Sie weiss wo, kann sie aber nicht befreien. Ob sie noch lebt, weiss Ayten nicht. Sie und ihr Neffe haben kein Wasser, kein Essen. Wie viele Menschen.
Freiwillige suchen mit
Hoffnung spenden Menschen wie Suat Altork (32). Er hat seit Tagen nicht richtig geschlafen. Nur drei bis vier Stunden pro Nacht, erzählt er. Eigentlich arbeitet er in einem Bauteam eines Atomkraftwerks. Altork ist aus der Stadt Sirnak angereist, nahe der irakischen Grenze, knapp 600 Kilometer Luftlinie entfernt.
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Als er und seine Arbeitskollegen von den Erdbeben gehört haben, stiegen sie sofort in einen Minivan. Am Abend trafen sie in Antakya ein. Nun helfen sie, nach Verschütteten zu suchen. «Ich habe zu Hause eine dreijährige Tochter. Hier möchte ich andere Töchter retten. Deshalb bin ich hier», sagt er. Die Situation vor Ort beurteilt er kurz und knapp: «Es ist ein Desaster.»
Schweizer Retter finden ganze Familie
Trotzdem gelingen Erfolge. Altork und seine Kollegen konnten Mustafa (6) mit dessen Schwester und Mutter aus den Trümmern ziehen. Als Held fühlt sich Altork aber nicht. Er sieht viel eher die Überlebenden als Helden. Über Mustafa etwa sagt er: «Der Junge hat über 24 Stunden in den Trümmern überlebt und wurde nicht mal verletzt – das ist ein wahrer Held.»
Altork und seine Kollegen gehörten zu den Ersten, die vor Ort eintrafen, um zu helfen. Auch die Schweizer Delegation war eine der ersten im Krisengebiet – und schafft in den dunkelsten Stunden auch immer wieder Momente der Hoffnung. Gestern Abend kurz nach 18 Uhr Ortszeit ziehen Retter der Schweizer Rettungskette eine ganze Familie aus dem Schutt. Vom Baby (6 Monate) bis zum Grossvater (86) – sie alle überlebten unter den Trümmern. 62 Stunden lang.