Auch in Kanada ist die Diskussion über ein Verhüllungsverbot in der Öffentlichkeit in Gang. Eine der Hauptakteurinnen: die aus Saudi-Arabien geflohene Ensaf Haidar (36). Sie hatte das Land mit ihren drei Kindern verlassen, nachdem ihr Mann Raif Badawi (37) 2012 verhaftet und 2014 wegen «Beleidigung des Islams» zu zehn Jahren Haft und 1000 Peitschenhieben verurteilt worden war.
Die 2018 eingebürgerte Haidar möchte für die sozialdemokratische und separatistische Partei Bloc Québécois fürs nationale Parlament kandidieren. Per Mail beantwortet sie BLICK Fragen zum Schweizer Verhüllungsverbot, zu ihrem Kampf in Kanada, zu ihrem Mann sowie zum Gefühl, als sie selber das erste Mal den Schleier ablegen konnte.
Frau Haidar, haben Sie die Diskussion über das Verhüllungsverbot in der Schweiz mitverfolgt?
Ich habe das Abstimmungsergebnis gelesen und gratuliere dem Schweizer Volk, dass es sich erhoben und dieser Vorlage zugestimmt hat. Ich habe auch begriffen, dass es nicht nur um die Burka oder den Nikab geht, sondern um jede Verhüllung des Gesichts im öffentlichen Raum.
Wie schätzen Sie dieses Verbot ein?
Es ist ein gerechtes Verbot, das die Öffentlichkeit schützt. Es nimmt nicht nur Burka und Nikab, die beide Zeichen des politischen Islams sind, ins Visier. Es zielt auch auf Personen, die ein Delikt, ein Verbrechen oder eine andere Übertretung begehen wollen.
Die Schweiz wird wegen des Verhüllungsverbots auch stark kritisiert. Was sagen Sie dazu?
Sie ist bei weitem nicht das einzige Land mit einem solchen Verbot. Burka und Nikab sind auch in Österreich, Dänemark, Frankreich, Belgien, Tadschikistan, Bulgarien, China, Kamerun, Tschad, Kongo, Gabun, Marokko, Tunesien, Algerien, Usbekistan, Sri Lanka, Lettland und den Niederlanden verboten. Es befinden sich selbst arabische Staaten darunter. In Marokko ist es sogar verboten, solche Kleidungsstücke herzustellen.
Wie ist die Situation für verhüllte Frauen in Kanada?
In diesem multikulturellen Land müssen die Frauen nicht einmal ihre Verhüllung ablegen, wenn sie wählen gehen. Aber in der französischsprachigen Provinz Québec ist der Nikab verboten. Und laut dem 2019 beschlossenen Gesetz 21 über Laizismus (Trennung von Kirche und Staat) dürfen Frauen hier auch keinen Schleier tragen, wenn sie als Lehrerinnen oder Polizistinnen arbeiten oder wenn sie die Provinz Québec vertreten.
Sie selber kämpfen für ein generelles Verhüllungsverbot. Wie gehen Sie vor?
Ich will mich von den Vertreterinnen und Vertretern des Wahlkreises Sherbrooke in Québec nominieren lassen. Wenn das klappt, kandidiere ich bei den nationalen Parlamentswahlen in zwei Jahren. Laizismus, Gleichberechtigung der Geschlechter und Menschenrechte sind Themen, die ich im Unterhaus angehen will. Und das Verbot von Burka und Nikab gehört dazu.
Waren Sie, als Sie in Saudi-Arabien lebten, immer verhüllt?
In Saudi-Arabien müssen sich alle Frauen verhüllen. Wir haben gar keine Wahl, sonst würden Frauen und Mädchen von der Familie verraten oder auf der Strasse von der Religionspolizei angehalten. Für meine Familie waren Burka und Nikab Pflicht.
Als Sie nach Kanada flohen, zogen Sie den Schleier aus. Wie war das für Sie?
Ein immenses Gefühl von Wohlbefinden und Freiheit. Ich hatte das Gefühl, endlich atmen zu können! Vorher fühlte ich mich, vor den Augen der andern, in einem Versteck. Ich habe mich selber als Frau entdeckt.
Ihr Ehemann Raif Badawi wurde wegen Regimekritik und Beleidigung des Islams in Saudi-Arabien zu zehn Jahren Haft und 1000 Peitschenhieben verurteilt. Wie geht es ihm?
Raif ist deprimiert. Am 17. März sind es neun Jahre her, seit er die Haft angetreten hat. Ihm wird, wie auch mir, vorgeworfen, dass er versucht, die öffentliche Meinung zu beeinflussen und dem Ansehen des saudischen Königshauses zu schaden. Das Gegenteil ist der Fall: Wir haben nie das Königreich kritisiert, sondern den illegalen Prozess, den er durchlaufen musste. Dieser widerspricht selbst den saudischen Religionsgesetzen.