Die Russen haben was, was wir nicht haben: Kriegswirtschaft. Moskau hat seine Waffenproduktion massiv erhöht, seit Kriegsbeginn 360 Rüstungsunternehmen eröffnet und 520'000 neue Mitarbeitende eingestellt. Nächstes Jahr will Wladimir Putin (71) 106 Milliarden Franken in die Rüstung investieren: so viel wie seit 35 Jahren nicht mehr. Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius (63) warnt vor einem russischen Angriff auf Nato-Länder «in fünf bis acht Jahren» – und der ukrainische Finanzminister Sergej Marchenko (42) fordert seine Landsleute auf, «den Konsum einzuschränken». Sonst seis das dann bald gewesen mit der Ukraine. Nimmt man die mögliche Rückkehr von Donald Trump (77) ins Weisse Haus hinzu, wird klar: Europa muss aufwachen aus seinem friedfertigen Dornröschenschlaf, den wir uns seit dem Untergang der Sowjetunion gegönnt haben.
Wie lebt es sich in der Kriegswirtschaft? Worauf müssen wir vielleicht bald verzichten? Und was könnte bald verboten sein? Blick klärt auf.
Was ist das, Kriegswirtschaft?
Die Kriegswirtschaft ist ein von einer Regierung auferlegtes Wirtschaftssystem, in dem möglichst alle Bereiche auf die Produktion von Waffen und auf das Überleben in einer Notsituation umgeschaltet werden. Die Regierung gibt vor, was produziert und importiert wird. Dirk Sauerland, Wirtschaftsprofessor an der Universität Witten/Herdecke, spricht von einem «ausgedehnten staatlichen Dirigismus». Der Staat als Dirigent: Die Regierung könnte also bestimmen, wozu etwa der importierte Stahl verwendet wird (Panzer statt Privatfahrzeuge) oder womit man die Frachtzüge und -flieger füllt (Notvorräte statt Zalando-Päckli).
Wie lebt es sich als Privatperson in der Kriegswirtschaft?
Ein Umschalten auf Kriegswirtschaft hat theoretisch drei Hauptfolgen:
1) Industrie: Die Produktion von Kriegsgütern (Waffen, Panzer, Schutzkleidung) würde auf Kosten von weniger relevanten Produkten hochgefahren. Firmen könnten im Extremfall etwa gezwungen werden, neue Kampfstiefel zu produzieren, statt hippe Jogging-Schuhe zu designen. Knappe Ressourcen wie Stahl, Beton oder Kupfer würden primär für die Herstellung militärischer Güter verwendet. Das hätte Auswirkungen auf die Baubranche, die weniger Privathäuser bauen könnte.
2) Steuern: Knappe Güter, hohe Produktionskosten, ungewisse Zukunft: Der Staat gerät in einer Kriegssituation rasch in Engpässe. Um die Oberhand über die finanziellen Herausforderungen zu behalten, käme er nicht um Steuererhöhungen herum.
3) Rationierungen: Auch wenn man sich das heute kaum vorstellen kann: Theoretisch kann der Staat Lebensmittel oder selbst Medikamente rationieren und damit verhindern, dass die Vorratskammern plötzlich leer sind. Eingeschränkt werden könnte auch der Import von diversen Gütern (Kleider, Elektronik, Luxusware), um Platz zu schaffen in den knappen Transportmitteln.
Hat die Schweiz das schonmal erlebt?
Ja, zuletzt im Zweiten Weltkrieg (1939 bis 1945). Der Bundesrat pachtete damals einen Grossteil der importierten Rohmaterialien, um sie der Rüstungsindustrie zufliessen zu lassen. Bei der «Anbauschlacht» wurden Pärke und Fussballfelder zu Kartoffel-Äckern umgenutzt, um den Selbstversorgungsgrad hochzuschrauben. Niemand sollte hungern, falls die Grenzen plötzlich geschlossen worden wären. Aus demselben Grund erhielt jede Familie Lebensmittelmarken. Zucker, Brot oder Milch gab es nur in begrenzten Mengen zu kaufen.
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Auch die Idee von Skilagern stammt aus der Kriegswirtschaft: Im Winter 1940 fand das erste offizielle Schul-Skilager der Schweiz in Pontresina GR statt. Die Idee: Man wollte die Schulhäuser und Turnhallen im kalten Winter schliessen, um Kohle sparen zu können. Gleichzeitig sah man in der sportlichen Ski-Woche eine ideale Ertüchtigung und Vorbereitung der Schüler auf den späteren Militärdienst.
Und nicht zuletzt erlebten wir während der Covid-Pandemie eine Art Kriegswirtschaft light: Der Bundesrat rationierte beispielsweise Medikamente wie Panadol oder Aspirin, um Hamsterkäufe zu verhindern. Die Proteste, die das bundesrätliche Durchgreifen damals auslöste, geben eine Ahnung davon, wie schwierig die Einführung einer Kriegswirtschaft in einer Demokratie wäre. Autokratien wie Russland, die keine Demonstrationen dulden, haben da leichteres Spiel.
Was müsste Europa tun, um auf Kriegswirtschaft umzustellen?
Vieles! Man müsste sich auf eine gemeinsame Strategie einigen und danach die Produktion von Kriegsgütern hochfahren. Erste Initiativen wie den Luftverteidigungspakt European Sky Shield Initiative, an dem auch die Schweiz mitmacht, sind aufgegleist. Aber das reicht nicht. Dass die EU ihr Versprechen, der Ukraine bis im März 2024 eine Million Artilleriegeschosse zu schicken, nicht halten kann, zeigt: Wir sind nicht gerüstet für den Ernstfall.
Europa müsste Folgendes tun:
1) Aufrüsten: Als Kontinent vertrauen wir noch immer auf die schützende Hand der USA. Europa könnte sich bald fühlen wie der frisch ausgezogene Jüngling, der erstmals in der WG vor dem leeren Kühlschrank steht und realisiert, dass der sich ja gar nicht von allein füllt. Russland investiert inzwischen gut sechs Prozent seiner gesamten Wirtschaftsleistung in die Rüstung. Europa schafft nicht einmal das Nato-Ziel von zwei Prozent. In der Schweiz steckt der Betrag bei 0,8 Prozent fest. Investieren müsste man beispielsweise auch ins Strassennetz. Die Hauptverkehrsachsen in Europa sind auf maximal 44 Tonnen Belastung ausgelegt. Viel zu wenig für den Transport schwerer Panzer und Raketenwerfer.
2) Abschrecken: Frankreich und Polen kennen sie schon, viele andere europäische Länder noch nicht: die Militärparaden. Nebst gemeinsamen Militärübungen (wie etwa der Nato-Grossübung «Air Defender 23» im vergangenen Sommer) sind Paraden eine der Formen, wie einem potenziellen Aggressor Respekt eingeflösst werden kann. Nicht umsonst setzen Länder wie China, Nordkorea oder Russland alles daran, selbst in schwierigsten Zeiten pompöse Paraden durchzuführen.
Ist es wirklich nötig, sich diese Gedanken zu machen?
Leider ja. Die amerikanische Denkfabrik Center for Strategic and International Studies warnt davor, dass Europa die russische Gefahr unterschätzt. Der «Weckruf», den Moskaus Angriff auf die Ukraine ausgelöst habe, sei nicht genug. Jetzt müssten konkrete Handlungen folgen, wenn Europa gewappnet sein wolle. Die Schweiz scheint die Zeichen zu erkennen. Das Parlament will das Kriegsmaterialgesetz lockern. Derzeit liefert die Schweiz keine Waffen an Kriegsparteien und verbietet ausländischen Käufern ihrer Panzer, diese an die Ukraine weiterzuschicken. Neu soll der Bundesrat in ganz bestimmten Ausnahmefällen von diesen Verboten abrücken dürfen.