Als der Supreme Court, Amerikas höchstes Gericht, Ende Juni nach einem halben Jahrhundert das verfassungsmässige Recht auf Abtreibung, festgehalten im historischen Urteil des Falls «Roe v. Wade», beendete, brach für viele Frauen in den USA eine Welt zusammen. Und es begann ein Kampf um grundlegende Menschenrechte. Das Schlachtfeld: die Bundesstaaten der USA.
Das Recht auf Abtreibung ist allerdings nicht das einzige Recht, das in Gefahr ist. Expertinnen und Experten aus den USA fürchten um das Recht auf Verhütung sowie auf die gleichgeschlechtliche Ehe. Und: Der Supreme Court schränkte letzte Woche die Möglichkeiten der Umweltschutzbehörde (EPA) ein, den Ausstoss von Kohlenstoff aus den Kraftwerken des Landes zu reduzieren.
Eins ums andere scheinen etablierte US-Gesetze dem Obersten Gerichtshof zum Opfer zu fallen. Die US-Regierung und besonders der demokratische Präsident Joe Biden (79) wirken machtlos. Kein Wunder, hagelt es Kritik aus den eigenen Reihen. Wie konnte das passieren? Wieso hat der Supreme Court so viel macht? Und was kann Biden dagegen unternehmen? Blick erklärt die wichtigsten Punkte.
Wieso wird Biden kritisiert?
Dem Präsidenten scheinen die Hände gebunden zu sein. Und unter den Demokraten macht sich Frustration breit: Bidens Reaktionen kommen zu langsam und sind zu wenig konkret – obwohl er sich wochenlang vorbereiten konnte, nachdem der Entwurf des Gutachtens geleakt wurde. Das Weisse Haus versucht zu beschwichtigen. Die Dinge seien komplizierter, als sie schienen. Bidens Partei reicht das nicht aus.
Die Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez (32), die seit 2019 für New York im Repräsentantenhaus sitzt, schlug vor, den Supreme Court auszuweiten und weitere Richter zu ernennen. «Es ist an der Zeit, dass die Menschen einen echten, energischen Vorstoss sehen», twitterte sie. «Wir brauchen mehr.»
Die Abgeordnete Pramila Jayapal (56) findet ebenfalls klare Worte: «Ich denke, wir müssen anerkennen, dass selbst seine Stimme nicht ausreicht.»
Warum sind Biden die Hände gebunden?
Auch in den USA funktioniert die Regierung auf der Basis der Legislative (Kongress, bestehend aus Senat und Repräsentantenhaus), Exekutive (Präsident) und der Judikative (Supreme Court). Die ersteren beiden werden vom Volk gewählt, letzterer allerdings nicht. «Der Supreme Court soll die ruhige Hand sein, die nicht politisch motiviert ist», sagt Nyasa Steger (37) zu Blick. Sie ist eine auf Bürger und Menschenrechte spezialisierte US-amerikanische Anwältin und praktiziert seit über zehn Jahren in New York.
Der Oberste Gerichtshof hat insbesondere die Aufgabe, die Verfassung auszulegen, die verfassungsmässigen Rechte der Bürger zu schützen und sicherzustellen, dass die Regierung ihre verfassungsmässigen Befugnisse nicht überschreitet. Die Auslegung der Verfassung durch den Gerichtshof hat zu wichtigen Urteilen geführt, die die Bürgerrechte schützen.
Doch der Supreme Court kann all diese Urteile auch wieder rückgängig machen. Problematisch wird das vor allem dann, wenn die «apolitische Hand» plötzlich ideologisch und politisch motiviert handle, anstatt sich vor Augen zu führen, was am besten für die Bevölkerung sei, erklärt Steger.
«Die US-Regierung ist absichtlich so strukturiert, dass sie die Macht des Präsidenten zur Beeinflussung des Gerichtshofs einschränkt», erklärt sie weiter.
Was kann er faktisch gegen solche Entscheidungen tun?
Der Handlungsspielraum des Präsidenten ist beschränkt. Auf Bundesebene hat Joe Biden erklärt, er unterstütze eine Ausnahmeregelung, um Abtreibungsrechte zu schützen, obwohl noch nicht klar ist, ob die Demokraten über die nötigen Stimmen verfügen, um dies durchzusetzen. Eine weitere Möglichkeit: Biden könnte Druck auf den Kongress ausüben, damit dieser Gesetze verabschiedet, die diese wichtigen Bürgerrechte schützt.
«Er könnte zusätzliche Richter für den Obersten Gerichtshof ernennen, die dann die Macht der derzeitigen konservativen Mehrheit verwässern würden», so Steger und greift somit den Vorschlag von Ocasio-Cortez auf. «Wenn er dies täte, würde man ihm mit Sicherheit vorwerfen, er würde das Gericht ‹vollstopfen›, aber es ist eine Möglichkeit.»
Im Gespräch mit Blick betont Steger: «Biden sollte sich dafür einsetzen, das Recht auf Abtreibung im Bundesgesetz zu verankern, die gleichgeschlechtliche Ehe, das Recht auf Empfängnisverhütung und die Ehe zwischen schwarzen und weissen Personen zu kodifizieren. All diese Bürgerrechte sind bedroht.»
Doch ist das realistisch? Anscheinend schon: Am Freitag verkündete Biden, dass er das Recht auf Abtreibung per Dekret schützen möchte und unterzeichnete einen entsprechenden Gesetzesentwurf. Wegen der sogenannten Filibuster-Regel brauchen die meisten Gesetzesvorhaben im Senat eine "Super-Mehrheit" von 60 der 100 Senatoren, um überhaupt zur Abstimmung zu kommen. Da die Demokraten nur über eine knappe Mehrheit verfügen, können die oppositionellen Republikaner Gesetze blockieren.
Wird Richterin Jackson am Supreme Court einen Unterschied machen können?
Sie ist die Hoffnung der Demokraten und wurde als Bidens Ass im Ärmel gehandelt: Am 30. Juni wurde Ketanji Brown Jackson (51) offiziell in den Supreme Court eingeschworen. Die Liberale Jackson ersetzt somit den ebenfalls liberalen Stephen G. Breyer (83), der sich für den Ruhestand entschieden hat. Trotz grosser Freude bei den Demokraten wird sich durch Jackson im Supreme Court allerdings nicht viel ändern.
«Ich bin sehr froh, dass eine schwarze, fortschrittliche Frau endlich in den Obersten Gerichtshof berufen wurde. Es besteht kein Zweifel, dass sie eine äusserst fähige und angesehene Rechtsgelehrte ist», freut sich Steger. Doch die Freude hält sich in Grenzen. «Sie ersetzt einen anderen Liberalen im Gericht, also wird sich die Zusammensetzung des Gerichts nicht ändern.»
Wie konnte es überhaupt so weit kommen?
Steger zu Blick: «Das war eine so noch nie dagewesene Amtszeit des Supreme Courts. Diese Entscheidungen stehen im Widerspruch zu wichtigen Grundprinzipien des Obersten Gerichtshofs und auch zu etablierten Konzepten der Ehrerbietung gegenüber Fachbehörden wie der Umweltschutzbehörde.»
Eine Teilschuld kann man beim ehemaligen Präsidenten Donald Trump (76) erkennen. Denn: Dieser hat die kürzlich ernannten Richter – Amy Coney Barrett (50), Brett Kavanaugh (57) und Neil M. Gorsuch (54), die alle gegen das Recht auf Abtreibungen gestimmt haben – vor allem aus einem Grund ausgewählt: wegen ihrer politischen Ideologie. «Die Richter, die ich ernennen werde, werden für das Leben sein, sie werden eine konservative Einstellung haben», begründete Trump seinen Entscheid bei einer Rede.
Werden weitere solche Entscheidungen fallen?
Das Problem: Die Richter des Supreme Courts werden lebenslänglich in den Gerichtshof gewählt. «Ich glaube nicht, dass dies ein einmaliges Ereignis ist. Es gibt klare Hinweise dafür, dass weitere Rechte auf dem Spiel stehen», so Steger.
«Die Entscheidung des Gerichtshofs in dieser Legislaturperiode scheint wie eine Kehrtwende. Der Gerichtshof setzt sich über sein eigenes geltendes Recht hinweg und stellt andere wichtige Bürgerrechte infrage, auf die sich die Menschen täglich verlassen», so Steger. «Angesichts der Entscheidungen, die wir in dieser Wahlperiode gesehen haben, bin ich definitiv besorgt darüber, wie weit das Gericht gehen könnte, um weitere wichtige Bürgerrechte abzuschaffen.»