Seit vergangenen Donnerstag kursiert die Hiobsbotschaft: In Südafrika wurde eine neue Corona-Variante entdeckt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuft das Risiko sofort als «sehr hoch» ein. Die Kurse an den internationalen Finanzmärkten stürzen in die Tiefe. Viele Länder reagieren mit drastischen Einreisebeschränkungen. Japan und Israel lassen gar keine Ausländer mehr ins Land. Doch ist die Panik berechtigt? Bislang wurde weder ein schwerer Krankheitsverlauf noch ein Toter unter den Neuinfizierungen gemeldet.
Ist Omikron gefährlicher als die Delta-Variante?
Gemeldete Infizierte zeigen bislang keine schweren Krankheitsverläufe. Auch ist noch kein Omikron-Toter bekannt. Die südafrikanische Ärztin Angelique Coetzee vermutet, dass eine Omikron-Infektion nur zu leichten Symptomen führe. Das habe eine Untersuchung von rund 30 Patienten in Pretoria gezeigt. Die Symptome seien für Corona ungewöhnlich, aber milde, erklärte die Vorsitzende des südafrikanischen Ärzteverbands gegenüber AFP. Die meisten der Patienten seien Männer unter 40 Jahren gewesen. Sie hätten über Gliederschmerzen und starker Müdigkeit geklagt, sich aber schnell erholt. Dennoch, räumt Coetzee ein, könne die neue Variante ältere Menschen mit Vorerkrankungen viel härter treffen. Auch wenn Christian Drosten beunruhigt ist, so sieht er noch viele offene Fragen. «Für eine veränderte Krankheitsschwere gibt es derzeit keine Hinweise», so der Berliner Charité-Virologe im ZDF-Interview. In zwei bis drei Wochen wisse man mehr.
Warum bereitet die südafrikanische Mutante dennoch Sorgen?
Omikron verbreitet sich schnell. In der südafrikanischen Provinz Guateng stiegen die Neuinfektionen im rasanten Tempo an. Dort hat Omikron die Delta-Variante bereits verdrängt. Neben der hohen Ansteckungsgefahr befürchten Experten, dass Omikron eine sogenannte Escape-Mutante ist, gegen die Impfungen unwirksam sein könnten oder der Impfschutz eingeschränkt ist. Tulio de Oliveira, Direktor des Zentrums für Epidemische Reaktion und Innovation in Südafrika, entdeckte eine, wie er sagt, ungewöhnliche Konstellation von 50 Mutationen im Omikron-Virus. Mehr als 30 Mutationen betreffen das Spikeprotein, auf das die aktuellen in Europa zugelassenen Impfungen abzielen.
Was sagt die WHO zur neuen Variante?
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nennt das globale Risiko der neuen Corona-Variante Omikron vorsorglich «sehr hoch». Am Montag räumt die UN-Behörde in einem Schreiben aber auch ein, dass die Wissenschaft noch sehr wenig über den Pandemie-Verlauf durch Omikron wisse. Die Risiko-Bewertung sei daher noch unsicher und könne sich noch ändern. Besonders Länder mit niedrigen Impfquoten könnten schwer betroffen sein.
Wo ist die neue Variante bis jetzt aufgetreten?
Neben Botswana und Südafrika, wo die Mutante entdeckt wurde, gelten sechs weitere afrikanische Länder (Namibia, Simbabwe, Mosambik, Eswatini, Malawi und Lesotho) als Virus-Variantengebiete. Es wurden Fälle in Australien, Hongkong, Kanada, Japan und Israel bekannt. Besorgniserregend breitet sich Omikron in Europa aus. So ist das Omikron-Virus bereits in Grossbritannien, Belgien, den Niederlanden, in Deutschland, Italien, Österreich, Tschechien und Dänemark angekommen. Auch die Schweiz meldet ihren ersten Verdachtsfall. In Portugal wurde die Virus-Variante bei 13 Spielern und anderen Mitgliedern des Erstliga-Fussballclubs Belenenses SAD festgestellt. Frankreich wartet bei acht Verdachtsfällen noch auf die Laborergebnisse.
Wie gut wirken die aktuellen Impfstoffe?
Angesichts der noch dünnen Datenlage ist eine klare Antwort noch nicht möglich. Die Vielzahl der Mutationen im Spikeprotein spreche für eine höhere Ansteckungsgefahr, sagt Lothar Wieler, Chef des deutschen Robert Koch Instituts. Ob die Mutationen aber auch den Impfschutz aushebeln, sei noch nicht erwiesen. Der führende südafrikanische Seuchenexperte Salim Abdool Karim vermutet, dass die Impfstoffe mit einiger Wahrscheinlichkeit schwere Krankheitsverläufe verhindern können. Auch Wieler glaubt an «einen gewissen Impfschutz». Wie gut die aktuellen Impfstoffe gegen Omikron tatsächlich wirken, würde man in den kommenden zwei Wochen erfahren, kündigt die WHO an. Weniger optimistisch äussert sich Moderna-Chef Stéphane Bancel in der «Financial Times». Er erwarte einen erheblichen Rückgang des Impfschutzes, «ich weiss nur nicht, wie viel, weil wir die Daten abwarten müssen. Aber alle Wissenschaftler, mit denen ich gesprochen habe, sagen: ‹Das ist gar nicht gut.›»
Wie schnell könnten Impfstoffe an die neue Mutante angepasst werden?
Impfstoff-Hersteller wie Biontech, Moderna, Johnson&Johnson und AstraZeneca untersuchen mit Hochdruck, wie gut ihre Impfstoffe gegen Omikron wirken. Die mRNA-Imfpstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna liessen sich in etwa drei Monate anpassen. Sechs bis neun Monate bräuchten die sogenannten Vektor-Impfstoffe wie von Astrazeneca und Johnson&Johnson für das Vakzin gegen Omikron. «Ein höher dosierter Impfstoff könnte schnell hergestellt werden», sagt Stéphane Bancel, Chief Executive Officer vom US-Biotech-Unternehmen Moderna gegenüber CBNC, «doch um ein spezielles Vakzin gegen Omikron in grosser Menge liefern zu können, wird es Monate dauern.»
Entstand Omikron in HIV-Patienten?
Was Omikron von anderen Viren-Varianten unterscheidet, ist die überraschend hohe Anzahl von Mutationen, die die südafrikanische Variante auf sich trägt. Experten glauben, dass das Virus sich in einem Patienten mit HIV oder einer anderen Form der Immunschwäche über viele Woche entwickelt haben könnte. Das sei wahrscheinlich, meint auch Carsten Watzl, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie (DGfI) gegenüber der Nachrichtenagentur dpa.
Wie kam die Variante zu ihrem Namen?
Die UN-Gesundheitsbehörde WHO benennt neu auftretende Varianten nach dem griechischen Alphabet, um die Ursprungsorte der Mutanten zu schützen. Vor Omikron wären nun aber noch die Buchstaben «Ny» und «Xi» an der Reihe gewesen. «Ny», das auf Englisch wie «new» (auf Deutsch «neu») ausgesprochen würde, könnte zu Missverständnissen führen, heisst es in der WHO. Und «Xi» sei ein zu bekannter Nachname in China. Sein berühmtester Träger ist der chinesischer Staatspräsident Xi Jinping. Wissenschaftlich wird die neue Variante aus Südafrika schlicht B.1.1.529 genannt.