Anschläge in New Orleans, Las Vegas und Magdeburg – Forensiker Jérôme Endrass ordnet ein
«Es sind Frustrierte, die nach einem Ventil suchen»

«Lowtech»-Attentate: Nach dem Weihnachtsmarkt-Anschlag von Magdeburg spielt sich an Neujahr in New Orleans Ähnliches ab: Der US-Täter tötet mit seinem Auto mindestens 14 Menschen. Kurz darauf explodiert beim Trump-Hotel in Las Vegas ein Tesla. Ein Experte ordnet ein.
Publiziert: 02.01.2025 um 19:20 Uhr
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Aktualisiert: 02.01.2025 um 19:26 Uhr
Ein Mann fährt am Neujahrsmorgen in einem belebten Viertel von New Orleans mit einem Pick-up-Truck in eine feiernde Menschenmenge.
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Auf einen Blick

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Daniel JungRedaktor News

Tödliche Zwischenfälle mit Fahrzeugen an zwei Tourismus-Hotspots haben die USA zu Beginn des neuen Jahres erschüttert. 

In New Orleans raste der US-Armee-Veteran Shamsud-Din Jabbar (†42) mit einem gemieteten Ford-Pick-up in eine Menschenmenge, die Silvester feierte. Der Angreifer tötete 14 Menschen. Im Fahrzeug wurde eine Flagge des Islamischen Staats, Waffen und ein Sprengsatz gefunden. 

Wenige Stunden später explodierte ein Cybertruck von Tesla vor dem Trump International Hotel in Las Vegas – gemietet hatte das Fahrzeug der US-Armeeangehörige Matthew Livelsberger (†37). Dabei wurden der Fahrer getötet und sieben weitere Personen verletzt. Die Behörden untersuchten, ob es sich auch hier um einen terroristischen Akt handeln könnte. Das Auto als Tatwaffe – wie auch schon beim Magdeburg-Attentat vor Weihnachten. Warum? Ein Experte klärt auf. 

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14 Menschen sterben, der Täter – Shamsud-Din Jabbar (Foto) – wurde von Polizisten erschossen.
Foto: AFP

Der Zürcher Forensiker Jérôme Endrass sagt, dass beim Angreifer von New Orleans möglicherweise nicht allein die politische Ideologie des Dschihadismus im Vordergrund gestanden habe. «Laut den ersten Medienberichten schien er zuerst einen Anschlag gegen seine Familie geplant zu haben, weil er sich aus verschiedenen Gründen an den Rand gedrängt fühlte.» Der Mann habe Schulden gehabt und sei von Unterhaltszahlungen belastet gewesen. Dass sich die Gewalt genauso gegenüber Familienmitgliedern hätte ausdrücken können, komme relativ häufig vor. «Die Gewalt von Extremisten richtet sich häufig zuerst gegen ihre Angehörigen», betont Endrass. 

Auch beim Attentäter aus dem deutschen Magdeburg, der am 20. Dezember mit einem Auto fünf Menschen tötete und mehr als 200 verletzte, habe sich gezeigt, dass die politischen Ansichten relativ diffus waren. «Das kommt häufig vor», sagt Endrass. 

«Werther-Effekt» bei Extremisten

Dass nach dem Anschlag von Magdeburg nun in New Orleans erneut ein Auto als Waffe verwendet wurde, erstaunt Endrass wenig. Die Gründe für solche «Lowtech»-Attentate lägen auf der Hand. «Man muss keinen Sprengstoff herstellen, keine Waffen besorgen – alles Tätigkeiten, die unter Beobachtung stehen.»

Schon nach dem Anschlag von Nizza vom Juli 2016, bei dem 86 Menschen starben, habe es zahlreiche Nachahmer gegeben, mit Anschlägen in Berlin, London, New York, Stockholm oder Barcelona. Im Bereich der Suizidprävention spreche man vom «Werther-Effekt», sagt Endrass. Auch im Bereich des Extremismus gebe es ähnliche «Mode-Wellen». «Man stellt sich das dann so vor, dass abgehängte, psychisch auffällige und frustrierte Menschen nach einem Ventil suchen, sich von bestimmten Vorbildern angezogen fühlen und dann eben die Gewalt ausleben», erklärt der Psychologe.

Propaganda statt komplexe Planung

Der Entwicklung hin zu technisch einfachen Anschlägen habe aber auch damit zu tun, dass die Terrorismus-Prävention in den westlichen Ländern Fortschritte gemacht habe. «Die Gesetzgebung wurde verbessert, die Repression verstärkt.» Während es früher komplexe, zentral geplante Angriffen mit vielen Beteiligten gab – wie der Flugzeug-Anschlag vom 11. September 2001 – ständen nun Attentate im Mittelpunkt, die mit eher einfachen Mitteln vollendet werden. «Es gibt Akteure, die sehr viel Propaganda machen und darauf hoffen, dass irgendeiner darauf einsteigt und im Namen dieser Organisation eine schwere Gewalttat verübt.» Die Täter seien dabei nur teilweise tief in der Ideologie verankert. 

Das Bedrohungsmanagement sei deshalb eine Aufgabe, die mehrere Berufsgruppen gemeinsam angehen müssen: Polizei, Psychiatrie und Sozialstellen müssten darauf schauen, ob jemand auffällig werde. In der Schweiz funktioniere dieses Zusammenspiel vergleichsweise gut, sagt Endrass. «Es gibt eine grosse Kooperationsbereitschaft in der kleinräumigen Schweiz. Es geht uns diesbezüglich gut, wenngleich auch wir immer wieder gefordert sind.» 

Dschihadistische Aktivität vervierfacht

Dass das Attentat von New Orleans möglich war, sei ein dramatischer Hinweis darauf, «dass der IS wieder am Erstarken ist», erklärte Terrorismusexperte Peter R. Neumann (50) auf X. Das gelte nicht nur für die USA, sondern leider auch für Europa, wo sich das Volumen dschihadistischer Aktivität seit dem Oktober 2023, seit dem Beginn des Gaza-Kriegs, vervierfacht habe.

«Wer weitere Anschläge verhindern will, muss die Bekämpfung des dschihadistischen Terrors jetzt wieder zur Priorität machen», so Neumann. Die sich anbahnende Welle müsse nicht so tödlich werden wie die letzte – solange Politik und Sicherheitsbehörden frühzeitig, klug und entschlossen agierten.

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