Es ist eine Meldung aus den USA, die sich ständig wiederholt – einfach mit anderen Zahlen und einem anderen Ort. Ein Amokläufer in Lewiston im US-Bundesstaat Maine, erschoss im Oktober 2023 18 Menschen und hat 13 verletzt.
Allein dieses Jahr hat es in den USA laut «Gun Violence Archiv» 565 Massenerschiessungen gegeben. Dass es so oft und zu so schweren Attentaten kommt, liegt unter anderem daran, dass im Land der unbegrenzten Möglichkeiten Waffen leicht erhältlich sind. Dazu einige erschreckende Zahlen aus den USA:
Auf die rund 332 Millionen Einwohner kommen rund 393 Millionen Waffen in Privatbesitz.
Im Jahr 2020 verfügten 42 Prozent aller Haushalte über mindestens eine Schusswaffe.
Allein 2021 wurden 21’009 Menschen durch Schüsse getötet – Suizide nicht eingerechnet. Im laufenden Jahr sind es laut «Gun Violence Archiv» bisher knapp 16’000 Menschen, die erschossen wurden.
Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl liegt die Zahl der Tötungsdelikte (ohne Suizide) durch Schusswaffen in den USA rund 50-mal höher als in der Schweiz.
Zwischen 2000 und 2013 gab es mehr Amerikaner, die durch Schusswaffen getötet worden sind als Opfer von Aids, Drogen, Terrorismus und Kriegsopfer in Irak und Afghanistan.
Nur kleine Korrekturen
Schon viele US-Präsidenten haben versucht, den Waffenhandel und den Waffenbesitz einzuschränken. Vor allem die demokratischen Präsidenten hatten der Waffengewalt den Kampf angesagt. Zuletzt scheiterten Bill Clinton (77) und Barack Obama (62) im Kongress, und auch der amtierende Präsident Joe Biden (80) kam bisher nicht über leichte Anpassungen und die Eröffnung eines Bundesbüros zur Prävention von Waffengewalt hinaus.
USA-Expertin Claudia Brühwiler (41) von der Uni St. Gallen bilanziert: «Tatsächlich hat Biden in Erlassen gewisse Einschränkungen durchgesetzt, aber diese kommen nicht einer Reform gleich und können wieder rückgängig gemacht werden.»
Scheitern im Kongress
Dass kaum eine Verschärfung der Gesetze durchkommt, dafür sorgte Wayne LaPierre. LaPierre ist seit 1991 Direktor und zugleich Vizepräsident der NRA, der Nationalen Rifle Association. Diesen Freitag hat der 74-Jährige seinen Rücktritt als NRA-Chef bekannt gegeben. Die 1871 gegründete nationale Waffenvereinigung ist mit ihren rund fünf Millionen Mitgliedern eine der mächtigsten Lobbyorganisationen der USA. Sie sorgt mit ihren Politikern im Kongress dafür, dass «die individuelle Freiheit» nicht eingeschränkt wird.
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Hardliner und Scharfmacher LaPierre selber sorgt immer wieder mit brisanten Aussagen für Aufsehen. So sagte er zum Beispiel nach dem Massaker an der Sandy-Hook-Grundschule in Connecticut 2012: «Das Einzige, das einen schlechten Typen mit einer Waffe stoppt, ist ein guter Typ mit einer Waffe.»
Sein Freund Donald Trump (77), den die NRA im Wahlkampf mit 30 Millionen Dollar unterstützt hatte, war als US-Präsident diesem Rat gefolgt. Nach dem bewaffneten Überfall auf eine Schule in Parkland 2018 mit 17 Toten kündigte er an, das Lehrpersonal mit Waffen ausrüsten zu wollen.
LaPierre schiesst derart scharf, dass es zum Teil sogar den Republikanern zu viel wird. Als er 1995 vor «brutalen Regierungsschlägern» warnte, trat Ex-Präsident George H. W. Bush (1924–2018) aus Protest aus der NRA aus.
Bessere Kontrolle von psychisch Kranken
Viele Amerikaner – hauptsächlich auf republikanischer Seite – bezeichnen den Waffenbesitz als ein Grundrecht, das auf den 1791 verabschiedeten zweiten Verfassungszusatz (Second Amendment) zurückgeht. Da steht übersetzt: «Da eine gut organisierte Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.»
Es braucht vieles, um die Verfassung zu ändern. Brühwiler: «Gerade dieser Zusatzartikel hat eine grosse historische Bedeutung. Vor allem für Konservative gilt er als erste Freiheit: Nur Regierungen, so das Argument, die ihre Bürger fürchteten, würden ihnen die Waffen wegnehmen.»
Anstelle von strengeren Waffengesetzen, fordert die NRA eine bessere Überwachung und Erkennung von psychisch kranken Menschen. Nur so, meinen die Waffenbefürworter, könnten Massaker eingedämmt werden.
Biden resigniert
Obwohl die NRA wegen interner Querelen etwas geschwächt ist, bilden ihre rund fünf Millionen Mitglieder eine enorme Machtbasis. «Sie sind politisch aktiv und verstärken die Stimme der Organisation, indem sie Abgeordnete und Senatoren anschreiben», sagt Claudia Brühwiler. Letztlich sei aber die Macht der Organisation Ausdruck des Stellenwerts, den das Second Amendment in den Köpfen vieler Amerikaner habe.
LaPierre hatte schon mehrere US-Präsidenten erlebt. Keinem ist es gelungen, die NRA zurückzubinden und die Waffengesetze wirklich zu verschärfen. Meistens bleibt nur Resignation, wie auch bei Biden. Nach dem Attentat auf eine Schule in Nashville mit sechs Toten am 27. März antwortete er auf die Frage von Reportern, mit welchen Massnahmen man Massenerschiessungen verhindern könnte: «Ich habe alle Befugnisse meiner Exekutive ausgeschöpft, um auf eigene Faust alles in Bezug auf Waffen zu tun.»
Mit anderen Worten: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die eingangs erwähnte Meldung mit anderen Vorzeichen wieder für Entsetzen sorgen wird.