Der westfälische Kreis Gütersloh (360'000 Einwohner) steht kopf. Alle Schulen und Kitas wurden wieder geschlossen. Mehrere Häuserblöcke, darunter Unterkünfte der Belegschaft des Fleischkonzerns Tönnies, sind isoliert, ganze Strassenzüge komplett abgeriegelt. 7000 Mitarbeiter des Unternehmens stehen in 1300 Wohnungen unter Quarantäne. Doch viele flüchten in Panik mit hastig gepackten Koffern. Sie steigen in Minivans mit osteuropäischen Kennzeichen. Sie wollen nur weg. Heim nach Rumänien, Bulgarien oder Polen. Das Virus nehmen sie mit.
Vier Krankenhäuser nahmen bislang 21 Covid-19-Patienten auf. Sechs Infizierte liegen bereits auf den Intensivstationen, zwei kämpfen um ihr Leben. «Wir müssen mit einer erheblichen Zahl von Toten rechnen», fürchtet der gesundheitspolitische Sprecher der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament, Peter Liese (55). Er warnt: «Wir brauchen Massnahmen für die Allgemeinbevölkerung, nicht nur im Kreis Gütersloh, sondern auch mindestens in einer Umgebung von 30 Kilometern um den Betrieb.» Denn, so vermutet der CDU-Politiker, das Virus tobe bereits seit zwei Wochen in der Fleischfabrik. Die Nachverfolgung von individuellen Fällen sei nicht mehr einzugrenzen.
Jeder fünfte Tönnies-Mitarbeiter ist mit Corona infiziert
Trauriger Fakt ist: Der aktuell grösste Corona-Ausbruch Europas gerät völlig aus dem Ruder. Nach den ersten Infizierungen vor über einer Woche nimmt die Fleischfabrik im nordrhein-westfälischen Rheda-Wiedenbrück Massentests an über 6000 Mitarbeitern vor. Die Bilanz heute: 1331 haben das Coronavirus. 240 Testergebnisse stehen noch aus.
Die Produktion ist eingestellt. Unternehmenschef Clemens Tönnies steht am Pranger. Grund: Enge Arbeits- und Wohnverhältnisse sowie mangelnde Hygienemassnahmen seien schuld am Virusausbruch. An Rücktritt denkt der Präsident des Fussballklubs Schalke 04 nicht. Er wolle sich in der Not nicht aus dem Staub machen, sagt der Schnitzelkönig und verspricht: «Ich werde das Unternehmen aus dieser Krise führen.» Zudem kündigt der Firmenchef an, die komplette Fleischbranche verändern zu wollen.
Lockdown im Landkreis nicht ausgeschlossen
Doch es geht schon lange nicht mehr nur um die Corona-Sauerei in der Fleischfabrik. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet (59) reist am Sonntag zum Hotspot, nimmt an einer Krisensitzung teil. Mit dabei sind Vertreter der rumänischen, bulgarischen und polnischen Botschaft. Am Nachmittag tagt die Landesregierung. Ein Lockdown für den gesamten Landkreis sei nicht mehr ausgeschlossen, gibt Armin Laschet bekannt. Doch vorerst sei er zuversichtlich, dass das Virus noch zu lokalisieren sei.
Bereits im vorigen Monat brach das Coronavirus in anderen deutschen Schlachthöfen aus. Anfang Mai infizierten sich 140 Menschen in einem Schlachthof in Bad Bramstedt in Schleswig-Holstein. Mitte Mai steckten sich 205 meist osteuropäische Arbeiter bei Westfleisch nahe Münster an. Ende Mai traf ein Ausbruch 92 Mitarbeiter auch in der Niederlassung in Dissen im Landkreis Osnabrück. Grund für die Masseninfizierungen seien, so wird vermutet, die überbelegten Sammelunterkünfte der Billiglohnkräfte. Eine Sauerei, durch die nun die Gesundheit einer ganzen Region aufs Spiel gesetzt wird.
Das Coronavirus beschäftigt aktuell die ganze Welt und täglich gibt es neue Entwicklungen. Alle aktuellen Informationen rund ums Thema gibt es im Coronavirus-Ticker.
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