Fünfmal gewann sie das Cape Epic, sozusagen die Tour de France des Mountainbikes. Ebenso oft wurde sie Schweizer Meisterin und an der Marathon-WM und -EM konnte sie sich je eine Bronzemedaille sichern. Dann verschwand Ariane Lüthi (41), früher als Ariane Kleinhans in den Ranglisten, von der Bühne des Radsports.
Nicht freiwillig. Blick besuchte sie in Thun, wo sie jetzt nach vielen Jahren in Südafrika lebt. Offen spricht sie hier über die Depressionen, mit denen sie schon während ihrer Karriere zu kämpfen hatte und die Krankheit ME (Myalgische Enzephalomyelitis), die sie schlussendlich zu ihrem Rücktritt zwang.
Lüthis Karriere war von aussen betrachtet kaum an Glanz zu übertreffen. Sie fand erst spät zum Mountainbike, davor war sie Schwimmerin. Und was für eine Entdeckung der Radsport für die damals 27-Jährige war! «Im Schwimmen war ich ein Fisch unter Tausenden. Ich war nie Weltklasse im Schwimmen. Doch auf dem Mountainbike habe ich schon mein zweites Rennen gewonnen», erzählt sie. Nach dieser Goldmedaille war für Lüthi lange Zeit nur der Sieg gut genug. Ein Aspekt mit verheerenden Folgen.
«Konnte mich kaputt fahren»
«Wenn ich nicht gewonnen habe, nur schon, wenn ich Zweite geworden bin, war das so niederschmetternd für mich, dass ich jedes Rennen sozusagen um mein Leben gefahren bin. Das ist jetzt etwas überdramatisiert ausgedrückt. Aber die Angst, meine eigenen Erwartungen nicht zu erfüllen, trieb mich enorm an. Ich konnte mich absolut verausgaben und mich buchstäblich kaputt fahren.» Konnte sie das Rennen dann für sich entscheiden, war die Euphorie extrem intensiv – aber auch nur von kurzer Dauer.
«Am nächsten Tag war meine Gefühlslage dann schon wieder völlig anders. Ich überlegte mir, welche Konkurrenz nicht dabei war und versank in der Selbstkritik. Es war ein ständiges Auf und Ab. Das reinste Gefühlschaos.» 2017 wurden bei der Mountainbikerin dann Depressionen diagnostiziert. Nach etwa sieben Bike-Jahren, in denen sie schon etliche Titel gewonnen hatte, begann sie mit der Einnahme von Antidepressiva.
Kontrollierte Emotionen und weitere Medaillen
«Plötzlich musste ich nicht mehr gewinnen, sondern ich konnte gewinnen», schildert Lüthi. «Wo ich vorher oft unkontrolliert emotional wurde, kann ich die Dinge heute viel besser rational sehen.» Die Erfolge kamen weiterhin. Sie fuhr aufs EM- und WM-Podest und wurde weitere drei Male Schweizer Meisterin.
Doch dann: Bei ihrer zehnten Cape-Epic-Teilnahme, im Alter von 39 Jahren, geschah das, was sie später zum Rücktritt zwang. Sie steckte sich mit Covid-19 an.
«Schmerzen auszuhalten war nicht nur mein täglich Brot, sondern die eine Sache, die ich wirklich gut konnte», schreibt Lüthi einmal dazu auf Instagram. So erklärt sie heute auch, weshalb sie das Rennen damals trotz der Infektion, trotz Ermüdungserscheinungen und Kopfschmerzen nicht abbrach und sich über mehrere Tagesetappen durchseuchte: «Mein Geist schrieb Geschichten von Stärke, während mein Körper leise zwischen den Zeilen zerbrach.»
Entweder Entzug oder Crash
Was darauf folgte, waren Pausen, die nie wirklich lang genug waren und immer wieder Versprechen an sich selbst, sich jetzt auszuruhen, um dann das nächste Rennen fahren zu können. Oder die nächste Saison. Irgendwann musste sich die Spitzenathletin jedoch eingestehen: Diese Müdigkeit, diese chronische Fatigue, die geht nicht einfach wieder weg. Und es hilft auch nicht, die Antidepressiva zu wechseln.
Denn die Ursache von Long Covid, später dem Post-Covid-Syndrom und der ME-Krankheit sind körperlich, nicht psychosomatisch. «Jedes Mal, wenn ich die Trainingsintensität erhöhte, kam es zu einem Crash.» Wie diese Crashs aussehen, das kann ganz unterschiedlich sein. Mal war es eine Zahnentzündung, mal eine normale Erkältung, doch irgendwie ging es gesundheitlich immer bergab, sobald sie wieder vorsichtig ins Training einsteigen wollte.
Lüthi steckte im Dilemma fest. Denn sportliche Betätigung war für ihre mentale Gesundheit immer förderlich. «Es ist eine Art Entzug, den man durchmacht. Damit klarzukommen, dass das, was mir zuvor immer gutgetan hatte, nun körperlich schädlich für mich war, war lange schwierig für mich.» Sie musste ihre Dosis Antidepressiva erhöhen, denn die plötzliche Umstellung ihres Lebens, als sie sich endgültig entschied, aus dem Spitzensport auszutreten, war für sie nur schwer zu ertragen.
Trotz all dem, was sie verloren hat, schätzt Lüthi sich glücklich. Denn die Auswirkungen der ME, die sie selbst hat, sind eine milde Form der Krankheit. Viele andere Betroffene sind so krank, dass sie bettlägerig sind. Für Schwerstbetroffene von ME sind bereits Sonnenlicht und kurze Gespräche mit ihren Liebsten ein zu starker Reiz, der zu einer lang anhaltenden Zustandsverschlechterung führen kann.
«Von solchen Fällen zu hören, macht einem natürlich Angst», gesteht die ehemalige Mountainbikerin. «Doch ich bin in einem Zustand, in dem man noch etwas machen kann, und ich habe nun endlich auch einen Arzt gefunden, der sich mit der Krankheit gut auszukennen scheint.»
Die Hoffnung auf Genesung hat Lüthi nicht aufgegeben. Sie wird wohl nie wieder den Körper haben, den sie vor ihrer Covid-19-Erkrankung hatte. Doch vielleicht wird sie irgendwann ein Leben geniessen, in dem sie nicht nach einem halben Tag im Freien so erschöpft ist, dass sie sich zwei Tage davon erholen muss.