Darum gehts
- Zwei Ärztinnen stehen wegen mutmasslicher fahrlässiger Tötung vor Gericht in Visp
- Alarmierender Befund einer erweiterten Aorta wurde von Ärzten übersehen
- Bei korrekter Diagnose hätte Überlebenschance zwischen 80 und 86 Prozent gelegen
Helena I. und Noelle V. sprechen zum Schluss
Helena I. erklärt vor Gericht, dass sie den Tod von Alain Guntern sehr bedauert und nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt habe. Auch Noelle V. sagt vor Gericht, dass sie alles sehr bedauert. «Ich habe immer mein Bestes gegeben und werd dies auch in Zukunft tun.»
Damit ist die Verhandlung beendet, das Urteil wird für einen späteren Zeitpunkt in Aussicht gestellt.
«Kann nur den Kopf schütteln»
Anwalt Daniel Bellwald betont nochmals, dass die Rechte mit seiner Mandantin Noelle V. nicht gewährt worden seien. «Ich kann nur den Kopf schütteln, dass der Kardiologe nie befragt wurde», so der Anwalt.
Er müsse nochmals darauf hinweisen, dass der Kurzbefund nicht gelöscht wurde, sondern den Behörden weiterhin vorgelegen habe. «Klar ein Originalbefund später hinzugefügt.» Eine Fälschung der Krankengeschichte habe nicht vorgelegen, so der Anwalt.
Anwalt von Helena I. macht Vorwürfe Richtung Noelle V.
Peter Pfammatter geht in seiner Replik darauf ein, dass die Radiologin die Aortenerweiterung bei Alain Guntern hätte sehen müssen. «Sie hatte nichts anderes, als den Kurzbefund und dort fehlte die Information», so Pfammatter.
Staatsanwältin weist Verfahrensfehler zurück
Die Staatsanwältin ist der Überzeugung, dass sämtliche gemachten Aussagen der Angeklagten rechtmässig sind.
Das Walliser Kantonsgericht habe die Gutachten als unabhängig erklärt. «Es ist stossend, dass dies erneut zum Thema gemacht wird.»
«Meine Mandantin ist nicht für den Tod von Alain Guntern verantwortlich»
Für den Anwalt von Noelle V. ist klar, dass seine Mandantin nicht Schuld am Tod von Alain Guntern trägt. Er fordert einen Freispruch.
Auch habe keine Urkundenfälschung stattgefunden. Sie habe sich an das normale Prozedere gehalten.
«Die Situation belastet meine Mandantin sehr»
Anwalt Bellwald erklärt, dass Noelle V. die Sorgfaltspflicht nicht verletzt. «Die Arbeit meiner Mandantin hat nicht zum Tod von Alain Guntern geführt.» Es gebe keine Kausalität. «Meine Mandantin war der Meinung, dass alles in Ordnung ist. Sie hat ja nichts mehr gehört. Die Situation belastet meine Mandantin sehr.»
Eine Aortendissektion, also eine Aufspaltung der Gefässwände, sei unglaublich selten. «Auch die Erweiterung der Aorta ist kein Indiz für eine Dissektion», so Bellwald. Eine Dissektion war auf dem CT nicht erkennbar. «Nur das ist relevant.»
Einzig und allein der Kardiologe am Spital Sion hätte erkennen können, dass sich Alain Guntern in akuter Lebensgefahr befindet.
«Meine Mandantin hat ihren Auftrag ausgeführt»
Noelle V. habe sich bei ihrer Arbeit auf telefonischen Informationen stützen, die ihr von der Notfallärztin mitgeteilt wurden. «Das Gespräch dauerte 1 Minute und 28 Sekunden.» Seine Mandantin sei abhängig vom Auftrag.
Demnach habe sie nach einer Lungenembolie und einer Lungenentzündung gesucht. «Zu diesem Zeitpunkt lag wohl noch keine Aortendissektion bei Alain Guntern vor.»
Dann habe sie einen Kurzbefund erstellt. Damit sei ihre Arbeit erledigt gewesen. «Zu dem Zeitpunkt war immer noch unklar, woran der Patient litt.» Noelle V. sei über weitere Erkenntnisse auch nicht informiert worden.
«Noelle V. hat auch nicht im Nachgang den Kurzbericht gelöscht. Ihr Vorgehen war korrekt.» Der Kurzbericht wurde mit einem Schlussbericht ersetzt. «Sie hat keine Berechtigung, etwas zu löschen.»
Bellwald ärgert sich darüber, dass der Kardiologe am Spital Sion nie wirklich zu befragen.
«Die Gutachten der Staatsanwaltschaft gehen von falschen Voraussetzungen aus»
Anwalt Bellwald versucht Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Gutachten der Staatsanwaltschaft zu streuen. «Die Gutachten langen schon vor, wir konnten gar nicht adäquat darauf reagieren, uns einbringen.»
Darum habe man ein eigenes Gutachten in Auftrag gegeben. «Die Gutachten der Staatsanwaltschaft gehen von falschen Voraussetzungen aus, das ist nicht zulässig.»
Das Hauptgutachten sei deshalb nicht verwertbar.
Jetzt redet der Anwalt von Radiologin Dr. Noelle V.
Anwalt Daniel Bellwald erklärt, dass seine Anwältin noch heute am Spital Visp tätig ist. «An jenem Tag hatte sie den Auftrag, eine Lungenembolie auszuschliessen», sagt Bellwald. «Sie hat den Patienten nicht gesehen. Sie kannte den Status des Patienten nicht.»
Sie habe den Auftrag erledigt, es wurde anschliessend keine weitere Kommunikation zwischen Noelle V. und Helena I. registriert. «Die letzten fünf Jahre waren die schlimmsten ihres Lebens für meine Mandantin», so der Anwalt.
Bellwald spricht von einem Skandal. «Der Opferanwalt konnte die Gutachter vorschlagen und wir Verteidiger waren noch nicht einmal in das Verfahren involviert.»
Bellwald bezeichnet die Verfahrensführung als undurchsichtig. «Die Gutachten wurden viel zu früh gemacht.»
Anwalt fordert Freispruch
Weil seine Mandantin sich nichts zu Schulden habe kommen lassen, fordert der Anwalt der Notfallärztin Helena I. einen Freispruch.
Es ist ein Prozess, wie er nicht so oft vorkommt. Ab heute Mittwoch stehen in Visp VS gleich zwei Ärztinnen vor Gericht. Helena I.* (56) und Noelle V.* (51) sollen für den Tod eines Menschen verantwortlich sein.
Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft: mutmassliche fahrlässige Tötung und Urkundenfälschung. Das Opfer: Alain Guntern (†48).
Mehr als nur Apotheker
Es war eine dieser Todesnachrichten, die in der Region für einen Schock sorgten. Im September 2020 starb Alain Guntern ganz unvermittelt an einer Aortendissektion, mit gerade einmal 48 Jahren. Guntern war in der Region wohlbekannt. Er führte zwei Apotheken in Brig-Glis VS, war Präsident des örtlichen Gewerbevereins. Er setzte sich für die Belebung der Innenstadt ein.
Seit 2018 präsidierte er zudem die Walliser Apothekervereinigung. Guntern war treibende Kraft des Westschweizer Apothekerkongresses, engagierte sich in der Nachwuchsausbildung. Er setzte sich als Unternehmer und Verbandspräsident für freie und unabhängige Apotheken ein.
Auch sonst war der dreifache Familienvater sehr engagiert. Zum Beispiel in der Stiftung Stockalperschloss oder bei der Stiftung Emera, einer Organisation für Menschen mit Behinderungen. Der «Walliser Bote» würdigte Guntern mit einem grossen Nachruf.
Alarmierenden Befund übersehen
Fünf Jahre später ist der Tod von Alain Guntern nun ein Fall für die Justiz. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass es bei der Behandlung von Guntern zu schweren Versäumnissen gekommen ist.
Laut Anklageschrift (sie liegt Blick vor) suchte der bis dahin gesunde Guntern die Notfallstation des Spitals Visp wegen plötzlich einsetzender, extrem starker Kopf- und Brustschmerzen auf. Die Schmerzen waren so stark, dass dem 48-Jährigen die Tränen übers Gesicht liefen.
Obwohl die Symptome und die Familiengeschichte des Patienten (sein Vater hatte ein Aorten-Aneurysma) deutliche Warnzeichen für einen Riss der Hauptschlagader (Aortendissektion) waren, wurde diese lebensbedrohliche Diagnose von der zuständigen Notfallärztin Helena I. nicht in Betracht gezogen.
Ein durchgeführtes Lungen-CT zeigte eine massiv erweiterte Aorta von 69 mm (normal sind weniger als 35 mm) – ein alarmierender Befund. Gemäss Anklageschrift wurde diese Information jedoch sowohl von der Notfallärztin als auch von der diensthabenden Radiologin, Noelle V., ignoriert und im ersten Befund nicht erwähnt. Basierend auf einer Fehldiagnose wurde Alain Guntern auf eine normale Bettenstation ohne besondere Überwachung verlegt, wo er am nächsten Morgen leblos aufgefunden wurde. Fast eine Stunde wurde versucht, den Patienten wiederzubeleben. Erfolglos.
Fehler vertuscht?
Doch damit nicht genug. Die Staatsanwaltschaft wirft Noelle V. vor, versucht zu haben, ihren Fehler zu vertuschen. V. soll demnach am Todestag von Alain Guntern den ursprünglichen, unauffälligen Kurzbefund im Computersystem gelöscht und durch einen neuen, auf den Vortag rückdatierten Schlussbericht ersetzt haben, in dem die Aortenerweiterung plötzlich erwähnt wurde. Offenbar, um zu verschleiern, dass die kritische Gefässerweiterung erst nachträglich festgestellt wurde. Ein mutmasslicher Fall von Urkundenfälschung.
Besonders tragisch: Die Anklageschrift schliesst mit der Feststellung, dass «bei korrekter und zeitnaher Diagnose die Überlebenschance von Alain Guntern zwischen 80 und 86 Prozent betragen hätte».
Die Witwe von Alain Guntern wollte sich gegenüber Blick nicht zum anstehenden Prozess äussern. Auch Anfragen an die beiden beschuldigten Medizinerinnen blieben unbeantwortet. Für sie gilt die Unschuldsvermutung.
Blick berichtet heute ab 9 Uhr live vom Prozess in Visp.
* Namen geändert