Blick hatte Einsicht in unveröffentlichte Protokolle
Polizeiberichte enthüllen Realität von Zwangsausschaffungen

Blick hatte Einsicht in Polizeiberichte, die nach der Abschiebung von Familien aus der Waadt nach Kroatien entstanden sind.
Publiziert: 04.06.2025 um 15:54 Uhr
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Am 12. Dezember 2024 wurden Bezma und ihre Familie nach Kroatien abgeschoben. Blick besuchte sie im Januar.
Foto: julie de tribolet
Camille Krafft

Es ist 5.13 Uhr am Dienstag, 28. Januar 2025, als die Polizei das Zimmer einer afghanischen Familie im Bundeszentrum für Asylsuchende in Vallorbe VD betritt. Die Eltern und ihre vier Töchter, darunter ein einjähriges Baby, werden in ihrem Bett überrascht. Der Auftrag der Beamten: Die Familie nach Kroatien zu bringen. Notfalls unter Anwendung von Gewalt, heisst es fettgedruckt in der Aufforderung, die das Waadtländer Bevölkerungsamt an die Kantonspolizei weitergeleitet hat. Da die Balkanrepublik gemäss der Dublin-Verordnung für den Asylantrag der Familie zuständig ist, wartet am Flughafen Zürich ein Sonderflug auf sie.

Der von der Migrationsbrigade verfasste «Rückführungsbericht» enthält Einträge, die den Verlauf der Überstellung für jede der betroffenen Personen Minute für Minute beschreiben. Auf der Grundlage des Waadtländer Informationsgesetzes erhielt Blick Zugang zu den letzten fünf Berichten über Zwangsrückführungen von Personen mit minderjährigen Kindern aus dem Kanton Waadt nach Kroatien. Einem EU-Mitgliedstaat, der wegen seines Asylmanagements, seines brutalen Vorgehens gegen Migranten und seines mangelhaften Gesundheitssystems kritisiert wird. Anfang Jahr lösten mehrere von Blick dokumentierte Rückführungen kranker Kinder aus der Schweiz nach Zagreb verschiedene politische und bürgerliche Reaktionen aus.

Abflüge von Zürich und Genf

Vier dieser Sonderflüge, die grösstenteils von der Fluggesellschaft Helvetic Airways zwischen Juli 2024 und Januar 2025 gechartert wurden, starteten in Zürich bzw. Genf. Keine der zwangsweise überstellten Personen hatte eine Straftat begangen: Die Familien wurden zurückgeschickt, weil die Schweizer Behörden auf ihre Asylanträge nicht eingetreten waren.

Die Zahl der an den Einsätzen beteiligten Personen ist oft hoch – je nach Situation 15 bis 20. Laut der Polizei wird dadurch sichergestellt, dass die Überstellungen so ruhig wie möglich ablaufen. 

Blick hatte Einsicht in fünf Berichte. Die Dokumente sind eine Mischung aus gewöhnlichen Szenen, trivialen Details und absoluten Dramen.

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Schreie von Erwachsenen und Rülpsen eines Babys

Ausgewählte Auszüge aus den Logs der beiden Eltern und der jüngsten Tochter der afghanischen Familie, die im Januar abgeschoben wurde:

5:13 Uhr: Betreten des Schlafzimmers. Die Mutter schreit in den Armen ihres Mannes. 

5:15 Uhr: Baby im Bett. Von der Polizei abgeholt. Das Baby ist ganz ruhig. Vater und Mutter schreien. Das Baby wird aus dem Zimmer geholt und vor Lärm geschützt. 

5:18 Uhr: Mutter reisst sich das T-Shirt vom Leib. Schreit. Reisst sich die Haare aus. Kollegin greift ein (...). Hält das zerrissene T-Shirt hoch, damit man ihre Brüste nicht sieht. Zieht ein neues T-Shirt an. Beginnt sich zu beruhigen. 

5.19 Uhr: Lässt sich auf den Boden fallen. Sie wird auf die Bettdecke gelegt und bekommt ein Kissen unter den Kopf. 

5:30 Uhr: Die Windel des Babys wird gewechselt und das Baby angezogen (braune Hose, rote Socken, weisse Schuhe, weisses T-Shirt, blauer Pullover). 

5:42 Uhr: Der Vater muss sich übergeben, Arzt in der Nähe.  

5.44 Uhr: Die Übersetzerin erklärt ihm erneut, dass er keine andere Wahl hat, als zu gehen. 

5:50 Uhr: Durchsuchung mit Metalldetektor. 

5.50 Uhr: Die Flasche ist leer (ein kleiner Rest ist übrig). 

5.51 Uhr: Rülpsen des Babys. 

Wie üblich werden die Polizisten, die die Familie an diesem Tag abholen, von einem Vertreter des kantonalen Bevölkerungsamts und einem Arzt einer privaten Firma begleitet, die vom Staatssekretariat für Migration (SEM) des Bundes beauftragt wurde. 

Eine Dolmetscherin für Farsi

Zusätzlich zu dieser Truppe gibt es auch eine Dolmetscherin für Farsi sowie eine Person der Nationalen Kommission gegen Folter, die auf allen Sonderflügen anwesend ist. In ihrem letzten Bericht, der im Juli 2024 veröffentlicht wurde, wies die Organisation darauf hin, dass bei Zwangsausschaffungen aus der Schweiz auf dem Luftweg die Interessen des Kindes nicht beachtet werden.

Einkaufen von Croissants

Um 6.53 Uhr hielt der Konvoi an einer Tankstelle, um der Familie Croissants zu kaufen. Dann folgte das Warten in Zürich und schliesslich das Einsteigen in das Flugzeug, wo die Kinder Schokolade assen und Apfelsaft tranken. Das Baby, das mit der Abkürzung Depa (für Personen, die mit Polizeibegleitung während des Fluges zurückgeschickt werden) bezeichnet wird, wird zuerst «der P2» (Luftbegleitern) übergeben. 10.52 Uhr, das Log zeigt an: «Depa weint laut. Auf Anweisung des Chefs wird das Baby der Mutter einen Sitzplatz vor ihr übergeben.»

In ihrem Bericht hält die Polizei fest, dass die beiden Eltern zwar von Beginn des Einsatzes an unruhig und verbal gegen ihre Abreise waren, sie sie aber nicht körperlich behindern mussten. Dies ist nicht immer der Fall.

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Ein Vater in Handschellen vor seiner Tochter

Kerberos oder Cerberus ist der Hund mit den vielen Köpfen, der den Eingang zur Unterwelt bewacht. So hiess der Gürtel, mit dem ein türkischsprachiger Familienvater bei seiner Abschiebung per Flugzeug nach Zagreb im Juli 2024 gefesselt wurde. Ursprünglich für das Amt für Bevölkerung und Migration des Kantons Bern entwickelt, wird diese Erfindung seit 2022 offiziell bei allen Abschiebungen aus der Schweiz verwendet, wie auf der Website des Herstellers zu lesen ist. Der Gürtel umfasst Handschellen sowie Fussfesseln – und die Vorrichtung wird enger, wenn die Person versucht, den Mechanismus zu durchbrechen.

Die Familie besteht hier aus den beiden Eltern und ihrer Tochter, die jung genug ist, um in einem Kinderwagen transportiert zu werden. Laut Polizeibericht zeigt sich der Vater an diesem Morgen «fiebrig und zittert stark». Er spricht von einem geplanten Arzttermin und bittet darum, die Verlegung um eine Woche zu verschieben, was ihm jedoch nicht gelingt. Die Mutter droht direkt mit Selbstmord, falls sie nach Kroatien zurückgeschickt wird. Die Medikamente, die von den Ärzten der Firma Oseara, die vom SEM mit der Begleitung der Überstellung beauftragt wurde, aufgelistet wurden, umfassen ein angstlösendes Mittel sowie ein Antidepressivum.

Eine Panikattacke

Die Verhaftung ist kompliziert (ausgewählte Auszüge aus den Logs der drei Familienmitglieder):

6.15 Uhr: Der Vater wird immer unruhiger und muss mit Handschellen gefesselt werden. Er wird nach draussen geführt und in den Bus gesetzt. Er ist barfuss. Er kann laufen (4 Personen erforderlich, wir haben den Fahrstuhl nach unten genommen). 

6.21 Uhr: Die Mutter liegt auf dem Bett und fühlt sich nicht gut (ihr ist kalt). 

6.29 Uhr: Oseara sagt, dass die Mutter eine Panikattacke hat und dass ihre Gesundheit nicht gefährdet ist. 

6.25 Uhr: Vater gefesselt, Tochter in den Bus gesetzt, sah sich türkische Zeichentrickfilme an. 

6.30 Uhr: Er hat sich beruhigt. Er lehnt seinen Kopf gegen den Sitz vor ihm. 

6.36 Uhr: Ein Paar Socken, Sandalen und ein zusätzliches T-Shirt werden gebracht für den Vater. Die Socken und Sandalen werden ihm angezogen. 

6.45 Uhr: Man bietet ihr etwas zu trinken an. Sie lehnt ab und fragt weinend nach ihrer Mutter. 

6.47 Uhr: Die Mutter will nicht gefesselt werden, da sie sich sonst nach eigenen Angaben in die Luft sprengt. 

6.57 Uhr: (...) Herr ist vorne mit Handschellen gefesselt (Gürtel mit Handschellen). 

7.03 Uhr: Erklärt, dass sie während der Fahrt bei ihrer Tochter sein möchte, da sie sich sonst selbst verletzen würde. 

9.15 Uhr: Die Depa weint. 

10.50 Uhr: Einsteigen, Depa widersetzt sich körperlich. Die Depa kehrt in das Gebäude zurück und wird vom Bodenteam ZH behindert. 

11 Uhr: Weint, als sie ihren Vater gefesselt sieht. 

11.10 Uhr: Ihr Mann kommt gefesselt und schreiend in das Flugzeug. Sie hat Schwierigkeiten zu atmen. Ein Arzt kommt und bestätigt, dass es ihr gut geht. 

11:49 Uhr: Sie berührt liebevoll das Gesicht ihrer Tochter und weint. Sie tröstet ihre Tochter, die ebenfalls weint. 

11:50 Uhr: Kerberos, etwas zum Trinken. 

12:11 Uhr: Ihr wird ein Kägi mit Schokolade angeboten. Sie isst ein Stück und bietet es ihrer Tochter an. 

Während des Fluges bleibt die ganze Familie ruhig und der Vater wird entwöhnt, heisst es in der Zusammenfassung des Berichts. Bei der Ankunft werden die Eltern und das Mädchen den kroatischen Behörden übergeben.

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Die Abschiebung von Bezma*

Als die Polizisten am Donnerstag, den 12. Dezember 2024, um 4.21 Uhr ihr Zimmer betreten, schläft Bezma* im selben Bett wie ihr kleiner Bruder und ihre Mutter. Die Siebenjährige, die durch das plötzliche Eindringen mehrerer Personen geweckt wurde, setzt sich laut Polizeibericht auf die Bettkante. Zwei Minuten später steht sie weinend im Schlafzimmer. Nachdem sie von der Dolmetscherin, die mit ihr auf Türkisch spricht, beruhigt wurde, zieht sie sich schliesslich an: rosa Cordhose, weisse Schuhe, schwarzer Pullover, rosa Jacke.

Um 4.57 Uhr weigert sich Bezma, ihre Kuscheltiere zu nehmen, die ihr ein Polizist anbietet. Ein Mitglied des Abschiebungsteams nimmt den Rucksack des Mädchens an sich. Er ist orange und enthält Spielzeug, eine Haarbürste und Haarspangen. Dann geht es durch den Metalldetektor. Der Arzt der Firma Oseara, der vor Ort anwesend ist, erklärt das Kind für «transportfähig». Das Mädchen zieht seine Jacke an, gibt seiner Mutter die Hand und geht mit ihr zum Transporter, der sie vom Bundeszentrum für Asylsuchende in Vallorbe zum Flughafen Zürich bringen wird.

Bezmas vierjähriger Bruder kann nicht richtig durchsucht werden: Er wurde zur gleichen Zeit wie seine Schwester geweckt, war «müde» und «unkooperativ», wie es im Polizeilog handschriftlich heisst. Die Abschiebung von Bezma, die Blick im Januar in Kroatien aufgesucht hatte, löste Empörung aus, insbesondere von Ärzten. Das Mädchen wurde nämlich zusammen mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder wenige Tage nach ihrer Entlassung aus dem CHUV abgeschoben, wo sie wegen der Autoimmunkrankheit Kawasaki, die durch ein Koronaraneurysma kompliziert wurde, eingeliefert worden war.

Diese Elemente werden im Polizeibericht nicht erwähnt, da die Polizei keinen Zugang zu den Krankenakten der zurückgeschickten Personen hat. Gegenüber Blick hatte Bezmas Mutter erklärt, dass sie versucht hatte, die Polizei auf die gesundheitlichen Probleme des Mädchens aufmerksam zu machen, jedoch ohne Erfolg. Am 5. Dezember 2024, drei Tage, nachdem Bezma aus dem Spital entlassen worden war, wurde ihr Zustand laut den Akten von einem Experten der Oseara neu beurteilt. Dieser war zu dem Schluss gekommen, dass es kein erklärtes Gesundheitsproblem gab, das die Abschiebung hätte aufschieben können.

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Eine alleinerziehende Mutter, «bereit, sich umzubringen»

Am 3. Juli 2024 wurde eine alleinstehende Frau mit ihren beiden Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, aus einem Waadtländer Heim zwangsweise abgeschoben. Wie in den anderen Fällen genehmigt ein vom Zwangsmassnahmengericht erlassener Beschluss die Hausdurchsuchung vor der Abschiebung.

Die Mutter hat Sertralin, ein Antidepressivum, und Tranxilium, ein Anxiolytikum, auf ihrer Medikamentenliste (ausgewählte Auszüge aus den Protokollen):

4.55 Uhr: Depa (Kind) wurde am Eingang des Zimmers abgeholt. Er lag in seinem Bett. Unser Eintritt hat ihn geweckt. 

4.58 Uhr: Weint in seinem Bett. 

4.59 Uhr: Weigert sich, aufzustehen und sich zum Gehen vorzubereiten. Frau ... sagt, dass sie bereit ist, sich umzubringen. 

5 Uhr: Die Situation hat sich beruhigt und das Depa weint nicht mehr, liegt immer noch in seinem Bett und spielt mit einem Stofftier. 

5.09 Uhr: Die Mutter schlägt ihren Kopf gegen die Wand, festgehalten von ...., ohne Zwang, hört auf, sich den Kopf zu schlagen. 

5.11 Uhr: Arzt spricht mit....(immer noch im Bett). Der Arzt erklärt sie für «fit to transfer» + «fit to fly» (fit für die Verlegung und fit für den Flug, Anm. d. Red.). 

5.12 Uhr: Von ihrem Bett aus ... versucht, das Fenster zu öffnen (hysterischer Zustand), wird daran gehindert, ohne Zwang. 

5.18 Uhr: Weigert sich, das Bett zu verlassen. Ihr wird mitgeteilt, dass die beiden Kinder bereit sind.  

10.38 Uhr: Die Depa fragt nach einem Medikament, kann aber nicht sagen, welches. Der Arzt wird gerufen. Der Arzt gibt ihr 100 mg Sertralin mit einem Glas Wasser. Sie hat das Medikament genommen. Sie isst ein Mini-Biberli.  

10.48 Uhr: Die Depa weint, also haben wir sie zwischen ihre Mutter und ihren Bruder gesetzt. 

11.20 Uhr: Die Depa stimmt zu, zu zeichnen. 

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Posttraumatische Belastungsstörung und Ausmalen

Am 3. September wurde eine türkischsprachige Familie, bestehend aus zwei Elternteilen und zwei Kindern, von denen eines zweieinhalb Monate alt war, aufgegriffen und nach Zagreb gebracht. Im Juli hatte das Bevölkerungsamt Gespräche mit der Familie geführt, die eine freiwillige Rückkehr ablehnte. 

Die Mutter leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Gegenüber der Polizei berichtet sie von sexuellen und körperlichen Übergriffen, die sie in Kroatien erlitten hat. Sie erklärt, dass sie bereits mit dem SEM darüber gesprochen habe. Bei der Festnahme weint sie und bittet darum, dass die Anzahl der im Raum anwesenden Personen reduziert wird. Nur fünf Polizistinnen bleiben zurück.

Während der Fahrt, die reibungslos verläuft, kann die Mutter ihr Baby stillen und ihm das Fläschchen geben. Die Tatsache, dass die Abschiebung etwas später am Morgen stattfindet, verleiht dem Ganzen eine andere Färbung. Als die Polizei eintrifft, ist der Vater bereits wach und führt die Ordnungskräfte in das Zimmer, in dem sich seine Familie befindet.

Auszüge aus dem Logbuch des Mädchens:

6.15 Uhr: Das Mädchen wurde gefragt, ob sie etwas essen oder trinken wolle, was sie ablehnte. 

6.30 Uhr: Die Dolmetscherin sprach mit dem Mädchen, um es zu beruhigen, da es weinte. 

6.32 Uhr: Die Mutter schaltete sich in die Diskussion ein, um ihre Sorge über eine Rückkehr nach Kroatien zu äussern. 

6.55 Uhr: Fragte, ob die Mutter und ihre Tochter sich die Zähne putzen wollen. Sie sagte Ja.  

6.56 Uhr: Test des persönlichen Maxi Cosi in unserem Fahrzeug. 

7.19 Uhr: Tochter geht in den Speisesaal. Verabschiedet sich von Freunden.  

10.36 Uhr: Sie bekommt ein Croissant und ein Glas Wasser. Sie isst und trinkt. 

11.22 Uhr: Sie hat etwas (ein kleines Spielzeug) unter den Sitz des Flugzeugs fallenlassen. Trotz der Suche wird es nicht gefunden. 

11.27 Uhr: Sie liest ein kleines Buch und malt Bilder aus. 

11.53 Uhr: Ihr wird Wasser und Banane angeboten und sie erhält ein Sandwich von der Stewardess. Sie trinkt etwas Orangensaft. 

Wie alle anderen wird die Familie in Zagreb ausgeladen. Nachdem sie ihren Auftrag erfüllt haben, werden die auf dem Flug anwesenden Waadtländer Polizisten das Flugzeug in umgekehrter Richtung weiterfliegen. 

* Name geändert 

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