Darum gehts
- Kranker Junge nach Abschiebung zurück in die Schweiz gebracht
- Gildas leidet an Sichelzellenanämie und benötigt spezielle medizinische Versorgung
- Familie wurde im November aus Asylzentrum in Altstätten abgeschoben
Im zweiten Stock des Pourtalès-Spitals in Neuenburg führt ein langer, sehr langer Flur bis zum Zimmer von Gildas*. Der bald elfjährige Junge – in Wirklichkeit heisst er anders – sitzt unter einer geblümten Bettdecke und wirkt so erschöpft, als sei er gerade erneut im Unbekannten angekommen.
Wieder ein Spital, wieder ein Zimmer, wieder eine Daunendecke. Seit Jahren ist der Alltag des Jungen mit kongolesischer Herkunft geprägt von Schmerzen, Untersuchungen und Infusionen. Gildas leidet an Sichelzellenanämie – einer genetischen Erkrankung der roten Blutkörperchen. Immer wieder erleidet er schmerzhafte Anfälle, Komplikationen können lebensbedrohlich sein. Trotzdem hat ihn die Schweiz bereits einmal abgeschoben. Blick hat den Fall publik gemacht.
Vor einigen Wochen dann die Wende, es gibt vorerst ein Happy End: Gildas, seine Eltern und sein Bruder wurden zurück in die Schweiz überstellt.
Als er sich für die Schule vorbereitet, kam die Polizei
Gildas' Leben war geprägt von der Flucht. In der Schweiz lebte er mit seiner Familie im Asylzentrum in Altstätten SG. Doch am 19. November des vergangenen Jahres, in den frühen Morgenstunden, der Schock: Polizisten stürmten das Zentrum, während Gildas sich gerade für die Schule fertig machte. Am Flughafen Zürich wartete bereits ein Charterflug – das Ziel: Zagreb in Kroatien. Mit an Bord: Gildas, sein zweijähriger Bruder und die Eltern.
In Kroatien war die Familie einst erstmals als Flüchtlinge registriert worden – damals, als sie versuchte, von Serbien nach Westeuropa zu gelangen. Aufgrund des Dublin-Abkommens durfte die Schweiz Gildas und seine Familie dorthin zurückschicken.
In seinem negativen Asylentscheid zitiert das Schweizer Staatssekretariat für Migration (SEM) die Rechtsprechung: Die Ausschaffung sei nicht unzumutbar, wenn im Zielland eine medizinische Behandlung verfügbar sei, die nicht den Schweizer Standards entspreche. Die Schweiz geht zudem davon aus, dass Kroatien in der Lage ist, «eine angemessene medizinische Versorgung zu gewährleisten».
In Zagreb erklärten die Ärzte, dass sie Gildas nicht behandeln könnten – unter anderem, weil ihnen kein kompatibles Blut für Transfusionen zur Verfügung stand. Der Gesundheitszustand des Jungen verschlechterte sich zusehends. «Sein Zustand wird kritisch und es muss dringend eine Lösung gefunden werden», wandte sich Gildas' Vater an Blick.
Nach der Blick-Recherche formierte sich Widerstand. Auf einen Aufruf der Vereinigung «Solidarité sans frontières» verlangten mehrere Bürgerinnen und Bürger, darunter Prominente wie der Bischof von Lausanne, die Rückführung von Gildas. Auch im Parlament gab es mehrere Vorstösse.
Dank Ermessensklausel konnte Gildas zurückkehren
Gildas wurde inzwischen aus dem Spital entlassen. Die Familie zeigt sich dankbar für die erhaltene Unterstützung, möchte sich jedoch nicht zu den Umständen der Rückkehr äussern – und derzeit auch nicht fotografieren lassen.
Nach Blick-Informationen hat sich die Schweiz auf Ersuchen Kroatiens bereiterklärt, Gildas und seine Familie auf Grundlage einer Ermessensklausel der Dublin-Verordnung wieder aufzunehmen.
«Alles wurde streng geheim gehalten»
Grünen-Nationalrätin Delphine Klopfenstein Broggini (48) übte politischen Druck aus. «Ich kenne die zuständigen Personen im Staatssekretariat für Migration.» Diese habe sie auf die Situation des Jungen aufmerksam gemacht. Doch von der eigentlichen Entscheidung wurde auch die Nationalrätin ferngehalten. «Alles wurde bis zur Rückkehr der Familie streng geheim gehalten.»
Bei Asylfällen seien Minderjährige «die ersten Opfer des Systems», kritisiert Klopfenstein Broggini. «In den Bundeszentren können Kinder heute durchsucht und eingesperrt werden. Viele rote Linien wurden überschritten.» Die Rückkehr von Personen nach einer Wegweisung sei «eher die Ausnahme».
Warum das Staatssekretariat für Migration (SEM) den Gesundheitszustand von Gildas vor der Abschiebung nicht berücksichtigt hat, bleibt ungeklärt. Auf Anfrage von Blick verweigerte das SEM eine Stellungnahme – mit Verweis auf den Datenschutz und den Grundsatz, sich nicht zu Einzelfällen zu äussern.
* Name der Redaktion bekannt
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