Annina B. (14) ersticht ihre Freundin (†15) in Berikon AG
«Ich wollte jemanden umbringen – ich habe keinen Ausweg mehr gefunden»

Annina B. (14) hat im Mai ihre Freundin Mandy (†15) erstochen – und gestand die Tat. Die Jugendanwaltschaft ermittelt. Inzwischen gibt es klare Hinweise, was Annina zur Tat bewogen hat.
Publiziert: 23.06.2025 um 00:37 Uhr
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Aktualisiert: 23.06.2025 um 20:02 Uhr
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Freundinnen, Familie und Bekannte von Mandy (†15) haben am vermuteten Tatort eine kleine Gedenkstätte errichtet.
Foto: MICHAEL BUHOLZER

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Helena GrafReporterin

«Ich habe zugestochen», sagt Annina B.* (14). Es ist der Satz, mit dem sie – noch im Spital – bestätigt, was kaum zu begreifen ist: Sie hat ihre Freundin Mandy (†15) getötet. Mit einem Küchenmesser aus der Migros.

Der gewaltsame Tod eines Kindes durch die Hand eines anderen hinterlässt Fassungslosigkeit. Mandys Familie quält vor allem eine Frage: Warum? Antworten kann nur Annina B. selbst liefern.

Die Jugendanwaltschaft ermittelt wegen vorsätzlicher Tötung, eventuell Mord. Blick hat von einer informierten Quelle Einsicht in den Fall bekommen.

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Mandy (†15) wurde von ihrer Freundin Annina B. getötet. Offenbar gab es zwischen den Mädchen keinen Streit.
Foto: Helena Graf

Annina B. wurde am Tag nach der Tat befragt. Sie habe aus Wut gehandelt, erklärte sie. Vor allem Wut auf sich selbst. «Weil ich alles falsch gemacht habe.» Als sie zustach, habe sie an «nichts» gedacht. Mandy sei «überrascht» gewesen.

Beim Angriff schnitt sich Annina an beiden Händen. Sie bat Passanten um Hilfe. Mandy hatte sie blutend am Boden zurückgelassen. Allein.

«Bei Mädchen eine Ausnahmeerscheinung»

Volker Schmidt ist Chefarzt und Co-Leiter des Zentrums für Kinder- und Jugendforensik an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Er setzt sich mit Kindern und Jugendlichen auseinander, die schwere Gewaltstraftaten begehen. Den Fall Berikon kennt Schmidt nicht. Er äussert sich jedoch allgemein: «Schwere Gewaltstraftaten von unter 15-Jährigen sind selten. Und vor allem bei Mädchen eine Ausnahmeerscheinung.»

Schmidt nennt typische Risikofaktoren für schwere Jugenddelinquenz: beispielsweise ein kriminelles Umfeld und ein unstrukturierter Tagesablauf, Schulversagen, Vernachlässigung, Misshandlung oder Gewalt in der Kindheit.

Annina B. lebt mit ihren Eltern in einem Haus in Rudolfstetten AG. Sie sagte, sie habe viele enttäuscht. Ihre Familie zum Beispiel, mit ihren Noten. Zum Tatzeitpunkt war sie im zweiten Semester der 8. Klasse. Sie sei aber bereits seit Anfang der 7. Klasse «sauer» auf sich selbst gewesen.

Freundinnen hatten sich abgewandt

Die Ermittler vermuten eine «seit längerem bestehende psychische Belastung». Schmidt bestätigt, dass psychische Störungen bei jugendlichen Straftätern weit verbreitet sind: «60 bis 90 Prozent weisen eine Diagnose auf – dreimal häufiger als in der Allgemeinbevölkerung.» Häufig seien es Verhaltensstörungen, ADHS, Traumafolgestörungen oder Suchterkrankungen.

Annina B. sagte mehrfach, sie habe sich in der Vergangenheit selber verletzen wollen. Sie habe das Küchenmesser gekauft und es versteckt.

Mandys Mutter erzählte, Freundinnen ihrer Tochter hätten sich von Annina B. abgewandt. Nur Mandy habe immer zu ihr gehalten.

Ohne Perspektive

Chefarzt Schmidt erklärt: «Jugendliche, die sich nicht integrieren können oder zu wenig Anerkennung erhalten, entwickeln oft ein niedriges Selbstwertgefühl. Manche suchen die Schuld bei anderen – daraus kann Hass und Wut entstehen.»

Annina B. sagte, sie habe nicht mehr zur Schule gehen wollen. Ihr Leben habe sie «so» nicht mehr weiterführen wollen. «Ich wollte jemanden umbringen. Ich habe keinen Ausweg mehr gefunden.»

Annina B. beging die Tat in einem Waldstück in Berikon – etwa 600 Meter von Mandys Zuhause entfernt.
Foto: keystone-sda.ch

Schmidt betont, psychische Störungen entschuldigten keine Tat, seien aber relevant, um die Gewaltbereitschaft zu erklären und die richtigen Massnahmen zu treffen. «Manche Jugendliche glauben, sie hätten nun nichts mehr zu verlieren», erklärt er.

Manche würden sich dann zurückziehen, in Gewaltfantasien versinken – oft begleitet von «Leaking», also Andeutungen oder Gewaltverherrlichung in den sozialen Medien.

Brutale Zeichnungen im Zimmer

Annina B. behauptete, niemandem von ihrem seelischen Zustand erzählt zu haben. Mandy jedoch hat sich offenbar Sorgen gemacht: «Eines Abends weinte sie und bat ihren Vater, sie zu Annina zu fahren», erinnert sich Gabriela M.* (45), Mandys Mutter. «Sie hatte Angst um Annina, durfte aber nicht sagen, weshalb.» Schliesslich erreichte Mandy die Freundin und beruhigte sich.

Bei der Durchsuchung des Zimmers von Annina B. fanden die Ermittler Zeichnungen, auf denen einem Mädchen die Kehle durchgeschnitten wird. Annina sagte, sie habe ihre Wut gezeichnet.

Mandy (†15) machte sich Sorgen um ihre Freundin Annina B. (14).
Foto: Helena Graf

Gabriela M. fragt sich: «Wie konnte fast zwei Jahre lang niemand merken, dass mit ihr etwas nicht stimmte? Wieso musste meine Tochter dafür büssen? Wir haben uns immer um Mandy gekümmert.»

Geschlossene Abteilung

Die Mutter von Annina B. will sich gegenüber Blick nicht äussern. Die Täterin selbst erklärte in der Befragung, sie habe sich ein freies Leben gewünscht. Frei von allem.

Ihr Wunsch nach Freiheit mündete in einer tödlichen Tat: Annina B. tötete Mandy. Nach der Befragung kam sie in Untersuchungshaft. Nun wird sie in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung behandelt.

Volker Schmidt mahnt: «Die lauten, impulsiven Jugendlichen erhalten Aufmerksamkeit. Die Stillen, die alles in sich hineinfressen, bleiben oft unter dem Radar, weil sie nicht stören.»

Es sei wichtig, das Augenmerk mehr auf diese Gruppe zu richten: «Das fängt im Elternhaus an. Ganz banal, indem wir Interesse an unseren Kindern zeigen, an ihren Freunden, ihrer Befindlichkeit, ihrer Freizeit und ihrem Onlineverhalten.» Dadurch könne man vorbeugen, dass Verzweiflung in Gewalt umschlägt.

Für Mandy aber ist es zu spät.

* Namen geändert 

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