Die 35-seitige Anklageschrift und die mehrere Tausend Seiten umfassende Untersuchungsakte erzählen furchtbare Geschichten. 16 Jahre lang sollen vier Frauen im Berner Jura von einem Familienclan wie Sklavinnen gehalten worden sein. Patriarch Albrim F.* (65) und seine vier Söhne sollen sie aus dem Kosovo in die Schweiz gelockt, zur Hochzeit gezwungen und eingeschlossen und vergewaltigt haben. Doch von der Horrorgeschichte blieb nach einer ganzen Verhandlungswoche im November 2022 nicht viel bestehen.
Das fünfköpfige Richtergremium in Moutier BE liess Menschenhandel, Zwangsheirat, Körperverletzung, Entführung, Drohung, Vergewaltigung, Sozialhilfebetrug nicht gelten. Einzig die Punkte Sex mit einer Minderjährigen, Vergehen gegen das Ausländergesetz und Drohung führten zu einer Verurteilung. Zwei Brüder wurden freigesprochen, der Vater erhielt eine bedingte Freiheitsstrafe von 150 Tagen, ein Sohn 120 Tage bedingt, ein weiterer eine Busse über 100 Tagessätze.
Klägerinnen ziehen Verfahren weiter
Am Berner Obergericht hat am Mittwoch nun der Prozess wegen Menschenhandels begonnen. Angeklagt sind drei der Männer aus dem Balkan. Die zweite Instanz befasst sich mit dem Fall, weil zwei der Klägerinnen gegen drei der fünf Männer Berufung eingelegt haben. Die Generalstaatsanwaltschaft ist an diesem Verfahren nicht mehr beteiligt.
«Ich bin mit dem Entscheid der ersten Instanz nicht einverstanden», begründete eine der beiden Ex-Ehefrauen ihren Weiterzug. Sie sagte, dass ihr Ex-Mann ihr sexuelle Beziehungen aufzwang und ihr verbot, allein auszugehen. «Ich wurde nicht als Person, sondern als Objekt betrachtet».
«Er schlug mich mit einem Gürtel», sagte die andere Frau über ihren Ex-Mann, «Ich war nicht frei». Sie fügte hinzu, dass ihr Ex-Schwiegervater sie illegal in die Schweiz gebracht habe. Gerichtspräsident Rainier Geiser wies auf die unterschiedlichen Versionen hin, die die Klägerinnen im Laufe des Verfahrens vorgebracht hatten.
In erster Instanz war ein völlig veraltetes, engstirniges Frauenbild der Männer Thema. Sie stünden alle unter dem Einfluss der Traditionen ihres Heimatlandes, befand der Richter. Die Familie soll nach dem mittelalterlichen albanischen Gewohnheitsrecht des Kanun leben.
Erster Prozess mit Schwächen für Anklage
Der damalige Prozess hatte für die Anklage bereits unter einem schlechten Stern begonnen. Der Anwalt teilte am Anfang des Prozesses gleich mit, dass er eine Covid-Erkrankung durchgemacht habe. Schwach war denn auch seine Anklage. Am vierten Prozesstag stellte er schliesslich fest, dass die schweren Anklagepunkte kaum zu beweisen sind. Er erklärte: «Es ist schwer, einen unabhängigen Zeugen zu finden, der über Verstösse gegen Gesetze aus erster Hand berichten könnte.»
Doch noch schlimmer waren die sich widersprechenden und nicht konsistenten Vorwürfe der Privatklägerinnen. Während vier Stunden zerfetzte der vorsitzende Richter am Donnerstag die einzelnen Aussagen. So fällt es ihm schwer, den latenten Hang zu Gewalt der Männer zu glauben. Er sagt: «Bei einer Befragung sagte eine Frau nebenbei, dass ihr Mann keine Gewalt ausübe, weil er Angst vor der Polizei habe. Gleichzeitig sprach sie zuvor von Ohrfeigen und Schlägen.»
Schockierendes Verhalten
Auch die Aussagen der Frauen zu den Vergewaltigungen, dem Menschenhandel seien voll von Widersprüchen. «Sie erfüllen nicht die Anforderungen für eine Verurteilung», sagt der Richter. Er hielt fest, dass ihn vieles am Verhalten dieser Familie schockiere, aber strafrechtlich relevant sei an den Vorwürfen fast nichts.
Die Anwälte der Brüder und des Vaters verliessen den Gerichtssaal strahlend. «Die Wahrheit ist wiederhergestellt, mein Mandant ist sehr erleichtert», sagte Georges Reymond, der Anwalt des Vaters. Auch Verteidiger Dimitri Gianoli, dessen Mandant ganz freigesprochen wurde, freut sich: «Jetzt können die Männer wieder ein normales Leben aufbauen, die schweren Vorwürfe sind vom Tisch sind.» Verteidiger Jeton Kryeziu sagt über seinen Mandanten: «Er kann jetzt aufschnaufen. Die letzten vier Jahre waren extrem schwer durch die schlimmen Vorwürfe.»
Ganz anders sah es die Seite der Opferanwälte. Dominic Nellen sagt: «Die Richter haben es mit ‹im Zweifel für den Angeklagten› begründet.»
Regionalgericht Moutier BE: Kosovaren-Clan hielt Frauen wie Sklavinnen