Darum gehts
Nach der endgültigen Trennung von ihrem Mann steht Julia (38) vor ihrem Kleiderschrank und fragt sich: «Bin das wirklich ich? Oder hab ich all die Sachen nur gekauft, weil sie ihm gefallen?»
Elf Jahre dauert die Beziehung, fünf Jahre davon sind Julia und ihr Ex verheiratet, die gemeinsame Tochter ist vierjährig. Vor einem Jahr schafft Julia den Absprung, gerade hat sie die Scheidung eingereicht. Dass sie in all der Zeit die Schuld für das Verhalten ihres Mannes – inklusive Drogensucht und Affäre – bei sich selbst gesucht hat, ist typisch in einer toxischen Beziehung. Der Kreislauf aus Manipulation, Erniedrigung und Versöhnung habe eine starke emotionale Abhängigkeit zur Folge, erklärt Psychologin Katharina Samoylova, die sich auf die Begleitung von Frauen nach toxischen Beziehungen spezialisiert hat. «Vergleichbar mit einer Sucht.» Wer den Absprung schafft, hat schon viel geleistet – steht aber erst ganz am Anfang eines langen Weges.
Der Lebensinhalt ist weg
«Er war mein Fokus, ich habe so lange versucht, diese Ehe zu retten, bis von mir nichts mehr übrig war», sagt Julia. Trotzdem merkt sie irgendwann, dass sie auch ihre Tochter schützen muss. Innerhalb von vier Wochen plant sie gemeinsam mit Freunden die Trennung und geht. Und dann: Ihr Lebensinhalt ist weg. Julia hört auf zu essen, nimmt acht Kilo ab, hat zwei Nervenzusammenbrüche, fragt sich immer wieder, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hat.
Ähnlich geht es Nicole (55) – die, genau wie Julia, in Wirklichkeit anders heisst –, nachdem sie den Ausstieg aus einer fast zwanzigjährigen toxischen Beziehung geschafft hat. «Ich war wie eingefroren, konnte tagelang weder schlafen noch essen, sass stundenlang vor der Uhr, beobachtete einfach nur den Sekundenzeiger.» Zwei Jahre lang dauert der Ablösungsprozess zuvor, ist «eine ständige Spirale aus Entwertung, Hoffnung und Selbstbetrug.» Das Ende kommt mit einem grossen Knall, als Nicole ihrem Partner sein Fremdgehen beweist. Nach der Trennung ist ihr Leben weg – und auch Nicole verschwindet immer mehr. Zehn Kilo nimmt sie ab. Ihre erwachsenen Kinder, ihre Freundinnen und ihre Hündin geben Nicole Halt. Aber sie merkt: Das reicht nicht.
Blick: Was unterscheidet Menschen, die aus einer toxischen Beziehung kommen, von anderen, die unter einer Trennung leiden?
Katharina Samoylova: Nach einer üblichen Trennung finden die meisten Menschen nach einiger Zeit emotional wieder in ihr Gleichgewicht zurück. Während einer toxischen Beziehung mit einer Achterbahn aus Nähe, Zurückweisung und intensiven Versöhnungsphasen entwickeln aber viele psychosomatische Symptome: innere Unruhe, Schlafstörungen, Bauchschmerzen, Verspannungen oder sogar Übelkeit und Erbrechen bei Streit oder emotionaler Überforderung. Stück für Stück verlieren sie den Zugang zu ihren eigenen Bedürfnissen und Emotionen. Nach der Trennung fühlen sie sich häufig leer und innerlich zerrissen. Obwohl sie rational wissen, dass die Trennung richtig war, reagiert der Körper oft mit starker Anspannung, Angst, Zittern und emotionalen Zusammenbrüchen. Ohne gezielte Unterstützung bleiben viele lange in diesem Ausnahmezustand gefangen – manchmal Monate oder sogar Jahre.
Braucht jeder und jede Betroffene nach einer toxischen Beziehung eine Therapie?
Das kann man nicht pauschal beantworten. Jeder Mensch ist unterschiedlich belastbar, und jede toxische Beziehung verläuft anders. Wer nur kurz in einer belastenden Beziehung war, kann sich manchmal auch allein gut stabilisieren. Wer jedoch viele Jahre in einer toxischen Dynamik gefangen war oder starke Folgen wie Angstzustände, emotionale Abhängigkeit oder Selbstwertprobleme entwickelt hat und traumatisiert ist, sollte sich professionelle Unterstützung holen. Eine professionelle psychologische Begleitung kann den Heilungsprozess deutlich erleichtern und beschleunigen.
Betroffene sagen, sie seien in einer klassischen Redetherapie irgendwann nicht mehr weitergekommen.
Eine solche Therapie ist grundsätzlich sehr wirksam und kann Betroffenen helfen, ihre Erfahrungen besser zu verstehen und einzuordnen. Allerdings beobachte ich in meiner Arbeit, dass sie bei Menschen, die aus toxischen Beziehungen kommen, früher oder später an ihre Grenzen stösst. Erlebnisse aus solchen Beziehungen sind nicht nur im Kopf gespeichert, sondern setzen sich auch im Körper fest – in Form von Anspannung, innerer Unruhe, Schlafstörungen oder einem permanent erhöhten Stresslevel. Gesprächstherapien arbeiten primär über das Bewusstsein, sie erreichen oft nicht die tieferen Ebenen, auf denen der Körper die Erlebnisse weiterhin festhält. Deshalb können körperorientierte Ansätze, wie etwa EFT, eine wertvolle Unterstützung sein. Sie helfen dabei, die im Körper gespeicherten Spannungen sanft zu lösen und tiefere emotionale Heilung zu ermöglichen.
Kann ein Trauma nach narzisstischem Missbrauch geheilt werden?
Es kann in vielen Fällen gut behandelt werden. Hundertprozentige Symptomfreiheit kann niemand garantieren, doch viele Betroffene schaffen es, das Erlebte so zu verarbeiten, dass sie sich wieder emotional frei fühlen – und sogar gestärkt aus dieser Erfahrung hervorgehen. Wie lange dieser Weg dauert, ist sehr individuell.
Je nachdem ist der Kontaktabbruch mit dem Narzissten oder der Narzisstin nicht möglich, zum Beispiel bei gemeinsamen Kindern. Wie können Betroffene damit umgehen?
Eine solche Situation ist sehr belastend. Es ist wichtig, die eigenen Emotionen gut kontrollieren zu lernen und möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Das bedeutet konkret: Die Kommunikation sollte sich auf das Wesentliche beschränken – kurze, sachliche Antworten wie «Ja», «Nein» oder «Ich werde darüber nachdenken». Diskussionen oder emotionale Gespräche sollten unbedingt vermieden werden. Hilfreich ist, eine separate Handynummer oder E-Mail-Adresse einzurichten, um den Kontakt klar abzugrenzen und ausschliesslich auf die Kinder zu fokussieren.
Was ist Ihr wichtigster Rat an jemanden, der/die aus einer toxischen Beziehung kommt?
Man soll sich nicht scheuen, Unterstützung zu suchen – sei es im privaten Umfeld oder durch professionelle Begleitung. Viele Betroffene wurden in der toxischen Beziehung isoliert und entfremdet, sodass es manchmal schwerfällt, überhaupt Hilfe anzunehmen. Und: Nicht versuchen, den Schmerz dauerhaft zu verdrängen. Arbeit, Sport, Partys oder im schlimmsten Fall Alkohol und andere Ablenkungen mögen kurzfristig helfen – langfristig führen sie jedoch oft dazu, dass die unterdrückten Gefühle wie eine Lawine über einen hereinbrechen.
Blick: Was unterscheidet Menschen, die aus einer toxischen Beziehung kommen, von anderen, die unter einer Trennung leiden?
Katharina Samoylova: Nach einer üblichen Trennung finden die meisten Menschen nach einiger Zeit emotional wieder in ihr Gleichgewicht zurück. Während einer toxischen Beziehung mit einer Achterbahn aus Nähe, Zurückweisung und intensiven Versöhnungsphasen entwickeln aber viele psychosomatische Symptome: innere Unruhe, Schlafstörungen, Bauchschmerzen, Verspannungen oder sogar Übelkeit und Erbrechen bei Streit oder emotionaler Überforderung. Stück für Stück verlieren sie den Zugang zu ihren eigenen Bedürfnissen und Emotionen. Nach der Trennung fühlen sie sich häufig leer und innerlich zerrissen. Obwohl sie rational wissen, dass die Trennung richtig war, reagiert der Körper oft mit starker Anspannung, Angst, Zittern und emotionalen Zusammenbrüchen. Ohne gezielte Unterstützung bleiben viele lange in diesem Ausnahmezustand gefangen – manchmal Monate oder sogar Jahre.
Braucht jeder und jede Betroffene nach einer toxischen Beziehung eine Therapie?
Das kann man nicht pauschal beantworten. Jeder Mensch ist unterschiedlich belastbar, und jede toxische Beziehung verläuft anders. Wer nur kurz in einer belastenden Beziehung war, kann sich manchmal auch allein gut stabilisieren. Wer jedoch viele Jahre in einer toxischen Dynamik gefangen war oder starke Folgen wie Angstzustände, emotionale Abhängigkeit oder Selbstwertprobleme entwickelt hat und traumatisiert ist, sollte sich professionelle Unterstützung holen. Eine professionelle psychologische Begleitung kann den Heilungsprozess deutlich erleichtern und beschleunigen.
Betroffene sagen, sie seien in einer klassischen Redetherapie irgendwann nicht mehr weitergekommen.
Eine solche Therapie ist grundsätzlich sehr wirksam und kann Betroffenen helfen, ihre Erfahrungen besser zu verstehen und einzuordnen. Allerdings beobachte ich in meiner Arbeit, dass sie bei Menschen, die aus toxischen Beziehungen kommen, früher oder später an ihre Grenzen stösst. Erlebnisse aus solchen Beziehungen sind nicht nur im Kopf gespeichert, sondern setzen sich auch im Körper fest – in Form von Anspannung, innerer Unruhe, Schlafstörungen oder einem permanent erhöhten Stresslevel. Gesprächstherapien arbeiten primär über das Bewusstsein, sie erreichen oft nicht die tieferen Ebenen, auf denen der Körper die Erlebnisse weiterhin festhält. Deshalb können körperorientierte Ansätze, wie etwa EFT, eine wertvolle Unterstützung sein. Sie helfen dabei, die im Körper gespeicherten Spannungen sanft zu lösen und tiefere emotionale Heilung zu ermöglichen.
Kann ein Trauma nach narzisstischem Missbrauch geheilt werden?
Es kann in vielen Fällen gut behandelt werden. Hundertprozentige Symptomfreiheit kann niemand garantieren, doch viele Betroffene schaffen es, das Erlebte so zu verarbeiten, dass sie sich wieder emotional frei fühlen – und sogar gestärkt aus dieser Erfahrung hervorgehen. Wie lange dieser Weg dauert, ist sehr individuell.
Je nachdem ist der Kontaktabbruch mit dem Narzissten oder der Narzisstin nicht möglich, zum Beispiel bei gemeinsamen Kindern. Wie können Betroffene damit umgehen?
Eine solche Situation ist sehr belastend. Es ist wichtig, die eigenen Emotionen gut kontrollieren zu lernen und möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Das bedeutet konkret: Die Kommunikation sollte sich auf das Wesentliche beschränken – kurze, sachliche Antworten wie «Ja», «Nein» oder «Ich werde darüber nachdenken». Diskussionen oder emotionale Gespräche sollten unbedingt vermieden werden. Hilfreich ist, eine separate Handynummer oder E-Mail-Adresse einzurichten, um den Kontakt klar abzugrenzen und ausschliesslich auf die Kinder zu fokussieren.
Was ist Ihr wichtigster Rat an jemanden, der/die aus einer toxischen Beziehung kommt?
Man soll sich nicht scheuen, Unterstützung zu suchen – sei es im privaten Umfeld oder durch professionelle Begleitung. Viele Betroffene wurden in der toxischen Beziehung isoliert und entfremdet, sodass es manchmal schwerfällt, überhaupt Hilfe anzunehmen. Und: Nicht versuchen, den Schmerz dauerhaft zu verdrängen. Arbeit, Sport, Partys oder im schlimmsten Fall Alkohol und andere Ablenkungen mögen kurzfristig helfen – langfristig führen sie jedoch oft dazu, dass die unterdrückten Gefühle wie eine Lawine über einen hereinbrechen.
Als ihr Hausarzt ihr die Diagnose einer depressiven Episode stellt, beginnt Nicole eine Psychotherapie, die sie stabilisiert. Auch Julia begibt sich auf Rat einer Freundin in Therapie, wo sie erst mal reden und sich ausweinen kann. Aber irgendwann merken beide: Sie stossen an Grenzen, finden auf vieles keine Antworten, werden den «Zustand der Verwirrung nicht los», wie Nicole sagt. Und: «Ich hatte das Gefühl, meine Therapeutin konnte die Tiefe meiner Verletzungen nicht nachvollziehen.» Genau hier liegt das Problem, sagt Katharina Samoylova: «Klassische Gesprächstherapien arbeiten primär über das Bewusstsein. Sie helfen, Situationen und Zusammenhänge besser zu verstehen, doch sie erreichen oft nicht die tieferen Ebenen, auf denen das Unterbewusstsein und der Körper die Erlebnisse weiterhin festhalten.»
Liebe hat nichts mit Aufopferung zu tun
Sowohl Julia als auch Nicole begeben sich in die Hände einer Spezialistin, die nicht nur mit Gesprächstherapie arbeitet, sondern auch mit körperlichen Ansätzen, zum Beispiel mit der sogenannten Emotional Freedom Technique (EFT), die Ansätze aus der Traditionellen Chinesischen Medizin mit wissenschaftlichen Erkenntnissen kombiniert. «Da löste sich langsam, was sich über Jahre in mir festgesetzt hatte», sagt Nicole. «Ich konnte Gefühle wie Wut, Ohnmacht, Trauer und Scham endlich annehmen und verarbeiten. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, wirklich in mir selbst zu landen.» Und Julia realisiert: «Diese Glaubenssätze, dieses Gefühl, nie gut genug zu sein – das kommt aus meiner Kindheit.» Die narzisstischen Strukturen kennt sie von ihrem Vater her. «Deshalb bin ich in dieser toxischen Beziehung gelandet. Weil es die einzige Art von Liebe war, die ich kannte.»
Die Emotional Freedom Technique (kurz EFT) ist eine Methode der Selbsthilfe, die bei Angstzuständen, Stress oder emotionalen Blockaden helfen soll. Bei der Methode klopft man mit Zeige- und Mittelfinger auf zwölf sogenannte Meridianpunkte. Diese befinden sich auf den Armen, den Händen, auf der Brust und im Gesicht. In der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) sind Meridiane die Bahnen des Körpers, durch die die Energie fliesst. Eine Blockade oder Störung in diesen Bahnen wird in der TCM oft mit gesundheitlichen Problemen in Verbindung gebracht. Im Mittelpunkt steht die Erkenntnis, dass emotionaler Stress Blockaden im Körper erzeugt, die die Heilung behindern. Wie die EFT sich auf die mentale Gesundheit auswirken kann, untersuchten Forschende der Stiftung für epigenetische Medizin im kalifornischen Santa Rosa. Bei Teilnehmenden sank die empfundene psychische Belastung signifikant.
Die Emotional Freedom Technique (kurz EFT) ist eine Methode der Selbsthilfe, die bei Angstzuständen, Stress oder emotionalen Blockaden helfen soll. Bei der Methode klopft man mit Zeige- und Mittelfinger auf zwölf sogenannte Meridianpunkte. Diese befinden sich auf den Armen, den Händen, auf der Brust und im Gesicht. In der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) sind Meridiane die Bahnen des Körpers, durch die die Energie fliesst. Eine Blockade oder Störung in diesen Bahnen wird in der TCM oft mit gesundheitlichen Problemen in Verbindung gebracht. Im Mittelpunkt steht die Erkenntnis, dass emotionaler Stress Blockaden im Körper erzeugt, die die Heilung behindern. Wie die EFT sich auf die mentale Gesundheit auswirken kann, untersuchten Forschende der Stiftung für epigenetische Medizin im kalifornischen Santa Rosa. Bei Teilnehmenden sank die empfundene psychische Belastung signifikant.
Am Ende ihrer Reise zu sich selbst sind beide noch nicht. Aber auf gutem Weg. Nicole: «Ich habe gelernt, dass Liebe nichts mit Aufopferung zu tun hat, und dass emotionale Abhängigkeit kein Ausdruck von echter Liebe ist. Liebe beinhaltet gegenseitigen Respekt. Und einen Umgang auf Augenhöhe.»