Der Lockdown war für viele Branchen eine Katastrophe, nicht zuletzt für den Tourismus. Doch dann kamen die Lockerungen. Und der Bundesrat rief den Schweizern zu: «Machen Sie Ferien zuhause!»
Das tun sie – doch viele anders als gedacht. Zwar verzeichnen auch die hiesigen Hotels wieder Buchungen, aber die Post geht derzeit in einem anderen Tourismus-Sektor ab: «Camping boomt», sagt Mathew Zacharias (45), Geschäftsführer des Giessenparks in Bad Ragaz SG.
Kiosk, Restaurant, Spielplatz, Freiluftbad und Campinganlage – auf 10000 Quadratmetern bietet der Giessenpark alles, was das Camperherz begehrt: vom einfachen Zweierzelt über den bewohnbaren Zirkuswagen bis zur Luxus-Unterkunft mit Whirlpool auf der Veranda. Und der Andrang ist gross. «Wir sind für diesen Sommer praktisch ausgebucht», sagt Zacharias.
Woher kommt der Boom? «Zurück zur Natur», sagt Oliver Grützner (47), Tourismus-Chef beim TCS. «Es ist eine Gegenbewegung zur Digitalisierung und permanenten Beschleunigung.» Sie wächst schon seit einigen Jahren. Ihren Anfang nahm sie in den USA. Über die nordischen Staaten, Holland und Deutschland kam der Trend schliesslich in die Schweiz.
«Zwischen 2012 und 2019 verzeichnen wir beim Camping eine Zunahme um 40 Prozent», sagt Frank Bumann (59), Tourismus-Dozent an der Fachhochschule Graubünden. «Corona hat diesen Trend verstärkt. Denn Abstand und frische Luft vermitteln ein Gefühl der Sicherheit.» Auch Oliver Grützner vom TCS nennt Zahlen, die den Boom bestätigen: «In den letzten drei Jahren hatten wir auf unseren 24 Campingplätzen 65 Prozent Neukunden: Pensionäre, die sich ein Wohnmobil zutun, Kleinfamilien mit VW-Bussen, aber auch eine wachsende Zahl von Leuten, die beruflich unterwegs sind und sich für eine Unterkunft auf dem Campingplatz statt im Hotel entscheiden.»
Anfragen bei den Plätzen stapeln sich
Angesichts der wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise spielt in diesem Sommer auch der Blick ins Portemonnaie eine wichtige Rolle. «Für Familien sind Ferien in Hotels tendenziell teurer als auf dem Campingplatz», sagt Christian Laesser (57), Tourismus-Professor an der Uni St. Gallen. «Wer eigentlich Ferien im europäischen Ausland plante, entdeckt jetzt als Alternative Camping in der Schweiz.» Budgetsicherheit gebe es zwar auch in einem Mittelmeer-Resort. «Aber in der aktuellen Lage besteht natürlich das Risiko, dass man im Ausland in einen Lockdown gerät.»
Und so stapeln sich die Anfragen bei den über 400 Campingplätzen in der Schweiz. «Der Preis ist nicht zu vernachlässigen», sagt Urs Zellweger (45), Betreiber des Camping Seehorn in Egnach am Bodensee. «Vor allem aber ist es der Wunsch nach Einfachheit, familiärer Atmosphäre und Flexibilität, der die Anlagen füllt.»
Das schätzen längst nicht mehr nur Pensionäre. Die Familie Zimmermann aus dem Zürcher Oberland machte im letzten Sommer zum ersten Mal Camping-Ferien am Bodensee, in einem geliehenen Wohnwagen. «Wir waren begeistert», sagt Marc Zimmermann (39). Jetzt haben sie sich einen Caravan gekauft und sind erneut nach Egnach gekommen. Zimmermann: «Für unsere Tochter sind das die perfekten Ferien. Wir haben schon früh gebucht, weil wir wussten, dass es dieses Jahr mehr Leute hat.»
Grosskonzern-Chefs sitzen mit Zeltbesitzern zusammen
Viele Neueinsteiger suchen die Nähe zur Natur – aber sie wollen auch Komfort. «Immer mehr Leute suchen das Exklusive», sagt Mathew Zacharias vom Giessenpark. «Glamping» heisst der Trend – glamouröses Camping. In Bad Ragaz bedeutet das: geräumige Häuschen mit Doppelbett, Sofa, Küche, Toilette, Dusche und Whirlpool. Das Frühstück steht morgens im Kühlschrank, am Nachmittag gibt’s eine Käse- und Fleischplatte für Zwischendurch. Eine solche Villa auf Rädern kostet bis zu 360 Franken pro Nacht. Die Grenze zur gehobenen Hotellerie sind fliessend.
Und so trifft man auch immer mehr Gäste mit dickem Portemonnaie beim Camping an – zum Beispiel den ehemaligen Verwaltungsratspräsidenten eines Schweizer Grosskonzerns, der regelmässig im Giessenpark Ferien macht. «Solche Leute schätzen, dass sie sich hier ungezwungen in Badehose und T-Shirt bewegen können», sagt Zacharias. «Am Abend sitzen sie mit anderen Gästen zusammen, die in einem Zweierzelt für 36 Franken übernachten.»
Diese Mischung sei charakteristisch für den modernen Campingplatz, sagt Zacharias. Oliver Grützner vom TCS bestätigt: «Den typischen Camper gibt es nicht mehr. Es sind Menschen jeden Alters und aus allen sozialen Schichten. Der Campingplatz ist ein Biotop, in dem sich Arbeiterfamilien, Rentner und Millionäre begegnen.»
In Fideris GR entsteht jetzt ein neuer Platz
Hanspeter Gisler (64) und Maria Bachmann (66) aus Uster ZH bestätigen den bunten Mix. Ihr Wohnwagen steht das ganze Jahr über im Giessenpark, sie kommen regelmässig hierher. In diesem Frühling sind Ihnen besonders die Neueinsteiger aufgefallen. «Es kommen immer mehr Leute, die das zum ersten Mal machen», sagt Hanspeter Gisler. «Wir sehen es ihnen an, wenn sie noch relativ unbeholfen ihre Zelte aufstellen.» Er freut sich über den Zuwachs. «Dieser Trend wird über Corona hinaus Bestand haben.»
Damit rechnen auch die Einwohner von Fideris GR. Am letzten Dienstag haben sie dem Bau eines neuen Campingplatzes zugestimmt. 24’000 Franken investiert die 600-Seelen-Gemeinde im Prättigau in das Projekt. «Wir reagieren auf die Tatsache, dass jetzt viele Leute Ferien in der Schweiz machen», sagt Gemeinde-Vizepräsident Walter Caprez (60). «Und weil Camping aktuell boomt, bieten wir unseren Gästen die Möglichkeit, das auch bei uns zu tun.»
Die Hotellerie in Interlaken leidet
Für die Schweizer Hotellerie heisst das: Nicht nur die ausländischen Gäste bleiben weg – auch um die einheimischen Ferienwilligen muss die Branche kämpfen. Thomas Dübendorfer (56) betreibt das Hotel Bellevue in Interlaken. Er ist skeptisch: «Es ist sehr leer. Wir haben ein paar einzelne Buchungen, die sich über den Sommer hinein verteilen, aber die klassische Hotellerie hier in Interlaken leidet.»
Natürlich bedeute der Camping-Boom neue Konkurrenz. Bloss: «Dass die Leute campen gehen, können wir nicht beeinflussen.» Die Hotels könnten ja schlecht einfach Zelte im Garten aufstellen. «Irgendwo hört die Kreativität auch einmal auf. Ich mag es aber jedem gönnen, der campen geht.»