Wirtschaftssoziologe Oliver Nachtwey über die moderne Unterschicht
«Arbeiten lohnt sich immer weniger»

Die Corona-Krise zeigt: Ohne Krankenpflegerinnen, Erzieherinnen oder Verkäuferinnen bricht das System zusammen. Das muss sich ändern, sagt Soziologe Oliver Nachtwey.
Publiziert: 19.09.2021 um 19:37 Uhr
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Aktualisiert: 22.09.2021 um 10:36 Uhr
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Wirtschaftssoziologe Oliver Nachtwey: «Die Abschwächung der Aufstiegschancen ist für eine Leistungsgesellschaft wie die Schweiz ein Problem, weil das eigene Selbstverständnis berührt wird.»
Foto: STEFAN BOHRER
Interview: Sven Zaugg

«Wenn Kranke nicht gepflegt, Lebensmittel nicht produziert, transportiert und verkauft oder Kinder nicht betreut werden, bricht das System zusammen», sagt Wirtschaftssoziologe Oliver Nachtwey.

Doch Menschen in diesen Berufen verdienen wenig, arbeiten oft rund um die Uhr, werden von Politik und Gesellschaft kaum wahrgenommen. Für Nachtwey sind sie die wahren Leistungsträger unserer Gesellschaft.

In seinem neuen Buch, das er zusammen mit Nicole Mayer-Ahuja herausgegeben hat, nennt er diese Menschen die «verkannten Leistungsträger:innen». SonntagsBlick hat den Professor zum Gespräch getroffen.

Herr Nachtwey, lohnt sich Arbeit eigentlich noch?
Oliver Nachtwey: Nicht in jedem Fall. Viele Menschen machen die Erfahrung, dass ihnen im Job immer mehr Leistung abverlangt wird, die sich in Sachen Einkommen, Beschäftigungssicherheit oder Lebensplanung aber immer weniger lohnt. Selbst im Hochlohnland Schweiz verdienen etwa zehn Prozent der Beschäftigten nur sogenannte «Tiefstlöhne».

In Ihrem Buch brechen Sie mit dem klassischen Bild des erfolgreichen Leistungsträgers in Anzug und Krawatte. Stattdessen sprechen Sie von «verkannten Leistungsträgern». Wer sind diese Menschen?
Wir haben den Begriff ganz bewusst gewählt. Seit den 90er-Jahren gelten Unternehmer, Manager und Berater und all diejenigen, die Geld, Einfluss und Erfolg haben, als Leistungsträger. Die Leistung «normaler» Beschäftigter hingegen verliert an Anerkennung und lohnt sich weniger als zuvor. Dies gilt speziell für die Gruppen, die seit Beginn der Pandemie gerne als «Helden des Alltags» bezeichnet werden. Pflegerinnen, Kinderbetreuerinnen, Kassiererinnen.

Sind diese «Helden des Alltags» die moderne Arbeiterklasse?
Im gewissen Sinn, ja. Nehmen wir den klassischen Fabrikarbeiter: Als noch in den Städten produziert wurde, war er Teil des gesellschaftlichen Lebens. Zur Fabrik gehörte zum Beispiel auch die typische Arbeiterkneipe, wo man nach der Schicht ein Bier kippte. Die Arbeiter waren Teil des Stadtbilds – auch im Falle eines Streiks. Die Transformation hin zur Dienstleistungsgesellschaft hat die kollektive Arbeiterschaft atomisiert und unsichtbar gemacht. Seit den 80er-Jahren drängt das Kapital noch offensiver dorthin, wo die Rendite am höchsten ist ...

… an die Finanzmärkte und in den digitalen Raum ...
Tatsächlich war Corona gerade für Finanzwirtschaft und Tech-Multis eine Erfolgsstory. Was aber ist mit dem Fabrikarbeiter passiert, der zum Essenskurier wurde ohne Lobby und Kneipe, was ist mit der Reinigungskraft ohne Gesamtarbeitsvertrag und Pausen? Der Anteil prekärer Beschäftigung hat stetig zugenommen. «Verkannte Leistungsträger» sind letztlich diejenigen, die in ihrer Arbeit grosse Leistungen erbringen, deren Position in der Klassengesellschaft dies jedoch nicht angemessen widerspiegelt.

Mit anderen Worten: Es fehlt die gesellschaftliche Anerkennung, der Lohn ist zu tief?
Ja und Jein. Im Vergleich zum europäischen Ausland verdienen der Pfleger oder die Pöstlerin in der Schweiz einigermassen anständig. Grund dafür sind die flankierenden Massnahmen, die die Löhne in der Schweiz vor allem vor der internationalen Konkurrenz schützen. Aber alles ist relativ: Denn noch bis in die Nullerjahre beobachteten wir einen Anstieg der Lohnungleichheit. Erst in den letzten fünf Jahren ist die Lohnschere nicht weiter aufgegangen.

Das sind doch gute Neuigkeiten?
Auf den ersten Blick schon. Doch das Einkommen ist nicht der einzige Faktor, der Wohlstand und Chancen bringt. Die Lebenshaltungskosten in der Schweiz sind enorm hoch – gerade für die Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten. In der Basler Innenstadt eine schöne Mietwohnung zu finden, wo man mit der Familie sehr gut leben und auch am Ende des Monats noch ein bisschen was sparen kann, ist schwierig geworden. Viele Leute sind gezwungen, in die Agglomeration zu ziehen und damit auf einen gewissen Lebensstandard zu verzichten. Das trifft für die Migrantenfamilie ebenso zu wie für den Schweizer Mittelstand.

Mit einem anständigen Vermögen könnte die Kostenrechnung ausgeglichen werden.
Genau hier zeigt sich eine grosse Ungleichheit. Das reichste Prozent besitzt 40 Prozent des Gesamtvermögens, das reichste Promille gar ein Fünftel aller Vermögen in der Schweiz. In der Pandemie liessen sich die Folgen dieser sich immer weiter öffnenden Vermögensschere besonders gut beobachten.

Analytiker der modernen Gesellschaft

Die Publikationen von Oliver Nachtwey (46), Professor für Soziologie an der Universität Basel wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Für sein 2006 erschienenes Buch «Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne» erhielt er den Hans-Matthöfer-Preis für Wirtschaftspublizistik. Zusammen mit der Arbeitssoziologin Nicole Mayer-Ahuja (48) analysierte Nachtwey die moderne Klassengesellschaft im Buch «Verkannte Leistungsträger:innen».

Die Publikationen von Oliver Nachtwey (46), Professor für Soziologie an der Universität Basel wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Für sein 2006 erschienenes Buch «Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne» erhielt er den Hans-Matthöfer-Preis für Wirtschaftspublizistik. Zusammen mit der Arbeitssoziologin Nicole Mayer-Ahuja (48) analysierte Nachtwey die moderne Klassengesellschaft im Buch «Verkannte Leistungsträger:innen».

Inwiefern?
Menschen, die wenig besitzen und verdienen, wohnen auf engerem Raum, haben Jobs an der Front und stecken sich dadurch vermehrt mit dem Virus an. Sie werden krank, sind schlecht versichert oder das Salär entfällt, weil sie überdurchschnittlich oft als Tagelöhner arbeiten. Sie können sich nicht auf ein üppiges Vermögen als finanzieller Puffer verlassen.

Der Soziologe Ulrich Beck sprach vom «Fahrstuhleffekt», der Reiche und Arme gleichermassen nach oben fahren lasse. Vielen Beschäftigten in der Schweiz gelang es, durch Arbeit, Bildung und die Unterstützung des Staats immer mehr Geld zu verdienen, immer sicherere Arbeitsplätze zu finden, mehr zu konsumieren und speziell den Kindern ihren Start in ein besseres Leben zu erleichtern. Ist das nicht mehr so?
In allen westlichen Gesellschaften sind die Aufstiegschancen gesunken – auch weil die Konkurrenz um die guten Jobs durch die Globalisierung grösser geworden ist. Gegenüber den eigenen Eltern gibt es zwar nach wie vor soziale Aufstiege, vor allem durch den gesellschaftlichen Strukturwandel zu einer Dienstleistungsgesellschaft. Aber sie bleibt auch eine Klassengesellschaft.

Warum?
Im Vergleich zu anderen in der gleichen Generation vererbt sich die soziale Position trotz Bildungsexpansion recht stark. Kinder aus wohlhabenden Familien mit einer guten Bildung tauschen nur selten die Plätze mit denen, die von unten kommen. Die Abschwächung der Aufstiegschancen ist für eine Leistungsgesellschaft wie die Schweiz ein Problem, weil das eigene Selbstverständnis berührt wird.

Und für Migranten?
Es gibt in der Schweiz durchaus einen Aufstieg durch Bildung für Kinder in der zweiten und dritten Generation. Es kommen zwar auch immer mehr hoch qualifizierte Migranten in die Schweiz, aber mehrheitlich arbeiten sie in Berufen der unteren Klassenlagen. Die migrantische Unterschichtung spielt ja auch eine wesentliche Rolle für die Alltagsbewältigung der Mittelklasse. Diese lässt sich das Essen bringen und hat das Putzen und Wäschewaschen oftmals externalisiert und die Altenpflege wegorganisiert.

Die Pandemie hat Frauen stärker getroffen als Männer – wirtschaftlich und sozial. Warum?
In der Schweiz sind mittlerweile mehr als 80 Prozent der Frauen zwischen 15 und 64 Jahren erwerbstätig, viele davon in Teilzeitanstellungen in prekären Sektoren wie der Pflege, dem Einzelhandel, der Gastronomie oder der Gebäudereinigung. Diese Tätigkeiten gehen häufig mit geringen Löhnen einher und sind besonders schlecht abgesichert. Man kann daher durchaus sagen, dass Frauen in den vergangenen Jahrzehnten als Wegbereiterinnen von prekärer Arbeit eingesetzt wurden.

Das wiederum drückt die Renten.
Menschen in prekären Arbeitsverhältnisse werden dreifach bestraft: Ihre Aufstiegschancen sind geringer, sie verdienen weniger und am Ende es Arbeitslebens wird ihnen nur eine dürftige Rente ausbezahlt.

In der Pandemie stand das Spitalpersonal im Rampenlicht, das ganze Land applaudierte. Gleichzeitig lehnen Bundesrat und Parlament die Pflege-Initiative ab. Wie passt das zusammen?
Nun, es ist die Schizophrenie der kapitalistischen Ökonomie. Wir wissen zwar, dass die Schweiz in den kommenden Jahren auf einen Pflegenotstand hinsteuert, konnten die Wertschätzung in der Pandemie gegenüber den Pflegerinnen aber nicht in konkrete Massnahmen übersetzen: bessere Ausbildung, höhere Löhne oder menschlichere Arbeitszeiten.

Was bleibt?
Es bleibt zu hoffen, dass das Bewusstsein in der Gesellschaft, wie wichtig diese Leistungsträgerinnen sind, durch die Pandemie gestiegen ist. Würden sie die Arbeit niederlegen, käme das System zum Stillstand. Auf den Berater auf einer Bank können wir kurzweilig verzichten, auf die Kinderbetreuerin nicht.

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