Wirtschaftsexperte Werner Vontobel ordnet ein
Stoppt die Zauberlehrlinge in der Vorsorgedebatte!

Tiefe Zinsen lassen die BVG-Renten schrumpfen. Bürgerliche Politiker wollen deshalb das Sparen in der dritten Säule fördern – und wissen nicht, was sie damit anrichten. Vor diesen Zauberlehrlingen warnt Wirtschaftsexperte Werner Vontobel.
Publiziert: 08.11.2021 um 12:17 Uhr
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Der Walliser FDP-Nationalrat Nantermod will den Steuerabzug für Einzahlungen in die dritte Säule erhöhen.
Foto: keystone-sda.ch
Werner Vontobel

FDP-Nationalrat Philippe Nantermod (37) sorgt sich um das Wohl der «Gesellschaft im Allgemeinen». Für sie sei es «sehr positiv», wenn in der dritte Säule mehr gespart wird, und dadurch die sinkenden Zinsen kompensiert werden. Zu diesem Zweck wollen er und ein Mitstreiter von der SVP den steuerfreien Abzug von 6883 auf 10'324 Franken erhöhen. Sie haben sich damit bei der zuständigen Kommission des Nationalrats durchgesetzt.

Das Problem ist bloss, dass nur sehr wenige Bürger Teil dieser «Gesellschaft im Allgemeinen» sind. Die Zahl der Haushalte, die pro Erwachsenen zusätzliche 3541 Franken steuerbegünstigt spare können, ist nämlich sehr klein. Gemäss der Statistik der Haushaltseinkommen spart das reichste Fünftel der aktiven Haushalte im Schnitt pro Erwachsenen (nach den Beiträgen in die erste und zweite Säule) etwa 3000 Franken jährlich. Der Bundesrat schätzt deshalb, dass bloss 11 Prozent der Haushalte vom (erhöhten) steuerfreien Maximalbeitrag profitieren könnten.

Wenige Profiteure ...

Doch selbst wenn das reichste Fünftel der Haushalte auf diese Weise mehr sparen könnte oder wollte, würden damit nicht deren Renten sicherer, sondern bloss deren Erben noch reicher. Gemäss Statistik ist das reichste Fünftel der Rentnerpaare Nettosparer. Sie legen jährlich 2100 Franken auf die hohe Kante und sind somit keineswegs darauf angewiesen, ihre dritte Säule anzuknabbern.

Für die grosse Mehrheit der Bürger wäre diese Art von Rentenreform allerdings ein herber Verlust, denn damit würden dem Bund, den Kantonen und Gemeinden jährlich gut eine halbe Milliarde Franken verloren gehen. Geld, mit dem der Staat beispielsweise Krankenkassenbeiträge zahlen, Krippen finanzieren oder Pflegepersonal einstellen kann. Schrumpfen diese Ausgaben, kann vor allem der ärmere oder kinderreichere Teil der Bürger noch weniger sparen, womit auch deren Rente noch unsicherer wird.

... und viele Verlierer

Doch es kommt noch schlimmer: Die höheren Freibeträge sind Teil der bürgerlichen Strategie, die bei vielen Pensionskassen weit unter 5 Prozent sinkenden Umwandlungssätze durch höhere Sparbeiträge zu kompensieren. Privatwirtschaftlich gesehen mag das clever sein. Volkswirtschaftlich gesehen grenzt es an Irrsinn: Um einen von 6,8 auf 4,5 Prozent sinkenden Umwandlungssatz zu kompensieren, müssten die Anlagen der 2. Säule von heute schon schwindelerregenden rund 1200 auf 1800 Milliarden Franken steigen. Allein die Verwaltung dieser Gelder kostet uns jährlich über 10 Milliarden Franken.

Vor allem aber würde diese Geldschwemme die Immobilienpreise und damit die Mieten noch höher treiben. Das trifft vor allem das ärmste Fünftel der Rentnerhaushalte. Sie mussten schon vor fünf Jahren 37,6 Prozent des verfügbaren Einkommens für die Miete ausgeben. Weil diese inzwischen Mieten schneller gestiegen sind als die Renten, dürfte dieser Prozentsatz inzwischen über 40 Prozent liegen. Zum Vergleich: Das reichste Fünftel zahlt nur 16 Prozent.

Missbrauch der Vorsorge

Der Immobilienmarkt ist längst zu einer riesigen Maschine der Umverteilung von unten nach oben verkommen. Und die Pensionskassen haben daran einen wesentlichen Anteil. Heute wird etwa ein Viertel der Pensionskassen-Renten bei den Mietern eingetrieben. Und von diesen Renten gehen keine 3 Prozent an das ärmste aber fast 40 Prozent an das reichste Fünftel. Dieses profitiert zudem weit überproportional von den jährlich rund 60 Milliarden Franken Wertsteigerungen des privaten Immobilienbesitzes.

Unsere Altersvorsorge ist die wichtigste wirtschaftspolitische Stellschraube. Missbraucht man sie als Instrument der Steueroptimierung, kann man damit viel Schaden anrichten. Wer stoppt die Zauberlehrlinge?

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