Die Uhr im Kongresszentrum Davos zeigt kurz nach halb zehn am Montagvormittag. In normalen Zeiten würden sich auf der grossen Treppe vor dem Plenarsaal VIPs und CEOs, Politikerinnen und Wissenschaftler gegenseitig auf den Füssen stehen. Normale Zeiten, das heisst, es fände in dieser Januarwoche das Jahrestreffen des World Economic Forums (WEF) statt. Doch in diesem Jahr ist nichts normal, eine Art Vor-WEF läuft derzeit virtuell im Netz, nennt sich Davos-Agenda. Die Wirtschaftselite trifft sich dieses Jahr im Mai in Singapur.
Deshalb steht nur einer auf der kahlen Treppe: Paul Ardüser (57), Schreinermeister aus Davos, zuständig für sämtliche Holzbauten im und ums Forum. «Das ist ein Riesenverlust», sagt Ardüser, spricht von einem Betrag im «hohen sechsstelligen Bereich». Dem Schreiner gelingt es sogar, aus der Not eine Tugend zu machen: «Es bleibt uns nichts anderes übrig, als die Ruhe zu geniessen!»
Das muss notgedrungen auch Boris Bossi (52). In seinem Sportgeschäft darf der Präsident des Handels- und Gewerbevereins Davos gerade noch Ski vermieten, der Verkauf ist pandemiebedingt verboten. «Dem Handel geht es schlecht, das Gewerbe dagegen kann ein Jahr ohne WEF verdauen», ist Bossi überzeugt. Allerdings sei die Pause auch eine Möglichkeit, mal darüber nachzudenken, ob das WEF in der heutigen Form noch zeitgemäss sei, gibt der Sporthändler zu bedenken.
Der Leidensdruck steigt
«Wir müssen uns neu erfinden», erklärt Adrian Weber (36), Geschäftsführer der gleichnamigen Bäckerei und Konditorei. «Auch wegen der Pandemie.» Kein WEF heisst für Weber, kleinere Brötchen zu backen: «Wir machen im Januar 40 bis 50 Prozent weniger Umsatz. Ein Ende der Durststrecke ist nicht in Sicht, seine Kunden fehlen. «Auch der Wintersportmonat Februar ist noch nicht gut gebucht», weiss der Bäcker.
Christine von Ballmoos (49) führt zusammen mit ihrem Mann eine Eventagenur. Daneben betreiben die beiden auch Bergsportgeschäfte und ein Restaurant. Gerade für die Eventagentur ist das Jahr ohne WEF ein herber Schlag, es gibt keine Abendessen oder Cocktails in schicken Lokalen zu organisieren. Wucherpreise verlangt von Ballmoos von ihren Kunden keine, hofft auch deshalb auf etwas mehr Normalität. «Ein Jahr ohne WEF erhöht den Leidensdruck für einige. Das kann auch zu positiven Veränderungen führen», macht die gebürtige Amerikanerin sich und anderen Mut.
Interessant: Neben dem fehlenden WEF gibt es ein Problem, das alle anschneiden, obwohl es sich dieses Jahr ja gar nicht stellt: die Trittbrettfahrer! Also Firmen, die von der globalen Ausstrahlung des Forums in Davos profitieren und ohne Absprache mit den Organisatoren ihre eigenen Werbeveranstaltungen durchziehen. Auch wenn diese oft gut bezahlen, mit Trittbrettfahrern will die Eventmanagerin nichts zu tun haben. «Es ist an der Gemeinde, die Davoser in Bezug auf die Trittbrettfahrer zu sensibilisieren», spielt von Ballmoos den Ball den Behörden zu.
Klumpenrisiko WEF
Der neue Landammann nimmt diesen gerne auf. Philipp Wilhelm (32) ist erst seit 20 Tagen im Amt, sagt im Gespräch mit Blick TV diplomatisch: «Wir nutzen die unfreiwillige Pause, um den Anlass nachhaltiger zu machen.» Das WEF habe ihn politisiert, erzählt der Sozialdemokrat, er habe am Rand des Forums für eine bessere Welt demonstriert. Nicht nur die Welt, auch das WEF soll besser werden. Das heisst: weniger Verkehr, weniger Trittbrettfahrer, nachhaltiges Wirtschaften im Landwassertal. «Einzelne Betriebe merken nun, dass es ein Risiko ist, sich nur auf einen Anlass im Jahr zu fokussieren», so Wilhelm.
Fast scheint es, dass einige insgeheim gar nicht so unglücklich sind über den Weckruf. «Der Hinterste und Letzte sieht nun, was es heisst, dass das WEF nicht da ist», erklärt Reto Branschi (62), Direktor der Tourismusorganisation Davos Klosters.
Hotelzimmer zum Schnäppchenpreis
Das heisst zunächst einmal: grosse Stille! Wo sich sonst die Limousinen stauen, ihre Abgase in die Alpenluft blasen, ist weit und breit kein Auto zu sehen. Statt im Verkehr versinkt Davos im Schnee. Statt Metalldetektoren und Sicherheitspersonal empfängt ein einsamer Rezeptionist die wenigen Gäste im Hotel Morosani Schweizerhof – und drückt sein leises Bedauern über die ungewohnte Stille in dieser Januarwoche aus.
Die Geldmaschine WEF hat dieses Jahr Pause, Hotelzimmer werden verramscht: 600 Franken kostet ein Doppelzimmer Superior im Morosani während des Stelldicheins der Reichen und Mächtigen. Letzte Nacht gab es das Zimmer für 130 Franken inklusive Frühstück.
Je nach Schätzung generiert das WEF in Davos einen Umsatz von 45 bis 60 Millionen Franken. Doch Branschi schränkt ein: «Von diesem Betrag müssen erst die Kosten für Sicherheit oder das viele zusätzliche Personal abgezogen werden.» Unterm Strich fällt der Gewinn für Davos also viel kleiner aus. Trotzdem wollen in Davos die wenigsten aufs WEF verzichten, die Vorbereitung für das Jahrestreffen 2022 seien bereits angelaufen, erklärt Branschi: «Wir haben eine klare Zusage – das WEF kehrt im nächsten Jahr zurück!»