Gestern Samstag ging in Venedig (I) das Treffen der G-20-Finanzministerinnen und -minister zu Ende. Wichtigstes Ergebnis: Die führenden Industrie- und Schwellenländer unterstützen die Einführung einer globalen Mindeststeuer von 15 Prozent für Grosskonzerne.
Ihr Ziel ist es, den Unterbietungswettlauf um die tiefsten Steuersätze zu unterbinden. So soll verhindert werden, dass vor allem kleine Länder ihre Gewinnsteuern auf ein Minimum reduzieren, um Grosskonzerne anzuziehen – und ihnen helfen, möglichst wenige Steuern zu bezahlen.
Steuerparadies Schweiz?
Die Reform zielt nicht zuletzt auf die Schweiz. In 18 von 26 Kantonen liegt der Gewinnsteuersatz unter dem geplanten Minimum von 15 Prozent. Im Ausland gilt die Schweiz deshalb gemeinhin als Steuerparadies.
Doch bezahlen Schweizer Grosskonzerne tatsächlich weniger Steuern als Multis, die ihren Sitz in anderen Ländern haben?
Nur bedingt, wie ein Blick in die Geschäftsberichte namhafter Unternehmen zeigt: Viele Schweizer Grosskonzerne liefern sogar mehr Ertragssteuern ab als manche Multis in Deutschland oder Frankreich.
Schweizer Firmen zahlen mehr Steuern
Zum Beispiel Nestlé: Der Schweizer Nahrungsmittelriese mit Sitz in Vevey VD erwirtschaftete in den Geschäftsjahren 2016 bis 2020 einen Vorsteuergewinn von durchschnittlich 12,8 Milliarden Franken. Davon lieferte er dem Fiskus 3,4 Milliarden Franken pro Jahr ab – macht eine Gewinnsteuerquote von rund 27 Prozent.
Das ist deutlich mehr als einige Grosskonzerne mit Sitz in unseren Nachbarländern entrichten. Der französische Pharmariese Sanofi zum Beispiel kommt im gleichen Zeitraum auf eine Steuerquote von 17 Prozent. Die Groupe PSA, zu der die Automarken Peugeot, Citroën und Opel gehören, kam in den vergangenen Jahren auf eine Steuerquote von 22 Prozent. Und Renault bezahlte im Fünfjahresschnitt 23 Prozent Ertragssteuern.
Anders bei Firmen mit Sitz im Ausland
Auch in Deutschland gibt es viele Grosskonzerne, die besser gefahren sind als Nestlé: Der Konsumgüterhersteller Henkel und die Deutsche Telekom kamen laut ihren Geschäftsberichten auf eine durchschnittliche Gewinnsteuerquote von 22 Prozent. Gleiches gilt für die Volkswagen-Gruppe, zu der auch die Marken Audi, Seat, Skoda, Bentley, Bugatti, Lamborghini, Porsche, Ducati, Scania und MAN gehören.
In der Schweiz wiederum gibt es mit dem Versicherungskonzern Zurich (29 Prozent), der UBS (32 Prozent) und dem Industriekonzern ABB (34 Prozent) weitere Unternehmen, die im internationalen Vergleich eine hohe Steuerlast ausweisen.
Mischrechnung bei multinationalen Konzernen
Wie ist das möglich? In Deutschland und Frankreich werden Unternehmensgewinne offiziell zu 30 respektive 28 Prozent besteuert. In der Schweiz liegt der durchschnittliche Steuersatz dagegen bei weniger als 15 Prozent. Wie kann es da sein, dass Schweizer Multis unter dem Strich teilweise mehr Steuern zahlen müssen als deutsche oder französische Konzerne?
Das Eidgenössische Finanzdepartement (EFD) erklärt das damit, dass multinationale Konzerne schon heute in vielen Ländern Gewinnsteuern entrichten. Die Gesamtbelastung entspreche deshalb einer Mischrechnung aus verschiedensten Steuersystemen, gewichtet nach dem erwirtschafteten Gewinn im jeweiligen Land. «Ein Konzern mit Hauptsitz in einem Tiefsteuerland kann also durchaus eine höhere Gesamtsteuerbelastung aufweisen als ein Konzern mit Hauptsitz in einem Hochsteuerland», erklärt eine Sprecherin des Finanzdepartements.
Nestlé ist ein Paradebeispiel dafür: «Unser Unternehmen zahlt in rund 150 Ländern Steuern, entsprechend unseren jeweiligen lokalen Geschäftstätigkeiten», so ein Sprecher.
US-Steuerquote fällt ins Gewicht
Die Gesamtsteuerquote eines Konzerns hängt demnach stark davon ab, wo welche Tätigkeiten ausgeführt werden – also wo die Wertschöpfung stattfindet. Frank Marty (49), Steuerverantwortlicher beim Wirtschaftsdachverband Economiesuisse, konkretisiert: «UBS und Zurich zum Beispiel haben eine sehr starke Präsenz in den USA. Die relativ hohe US-Steuerquote fällt bei diesen Unternehmen deshalb stark ins Gewicht, und sie bezahlen im Vergleich zu anderen Schweizer Grosskonzernen relativ viele Steuern.»
Grundsätzlich lässt sich daher festhalten: Der Steuersatz am Hauptsitz ist für Grosskonzerne nur dann von entscheidender Bedeutung, wenn sie dort auch eine grosse Wertschöpfung erzielen. Bei Multis, die komplett globalisiert sind, spielt die Steuerquote des Heimatlandes dagegen eine eher untergeordnete Rolle.
Globale Steuerreform
Das bedeutet jedoch nicht, dass die Schweiz die bevorstehende globale Steuerreform auf die leichte Schulter nehmen kann. Die Gefahr, stark verwurzelte Konzerne wie Nestlé, Roche oder Novartis zu verlieren, scheint zwar gering. Allerdings dürfte es in Zukunft schwieriger werden, Tochtergesellschaften von amerikanischen oder asiatischen Grosskonzernen in die Schweiz zu locken.
Solche Firmen müssen in Zukunft mit anderen Argumenten überzeugt werden. Zum Beispiel mit der Verfügbarkeit von hoch qualifizierten Fachkräften, einer hervorragenden Infrastruktur, Stabilität und Rechtssicherheit.
Viel Zeit für Anpassungen bleibt nicht. Der deutsche Finanzminister Olaf Scholz (63, SPD) verkündete am G-20-Gipfel: «Unser Ziel ist, dass die Vereinbarung 2023 in Kraft tritt.» Bis Oktober dieses Jahres sollen die letzten Fragen geklärt sein.