Über 200'000 Schweizer konsumierten bereits Anabolika – Suchtexperten warnen
Die Mucki-Falle

Die Muskeln wachsen, aber die Hoden schrumpfen. Sandro Ricci* nahm das in Kauf – so wie viele.
Publiziert: 01.01.2023 um 00:59 Uhr
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Aktualisiert: 01.01.2023 um 14:57 Uhr
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Anabolika boomen in der Schweiz. Junge Menschen vergleichen sich mit Personen, die Testo konsumieren ...
Foto: Getty Images/EyeEm
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Robin BäniRedaktor

Sandro Ricci* (27) möchte stärker werden. In der Hand hält er eine Spritze. Vor ihm steht ein Spiegel. Darin sieht er seinen nackten Hintern. Er setzt an, sticht ein und schiesst los. Insgesamt dreimal: Testosteron-Enantat, Masteron und Deca-Durabolin. Seine Gesundheit steht an zweiter Stelle. Alle drei Tage injiziert er sich die Anabolika aufs Neue. Nach zwei Monaten macht er Pause, bis er die nächsten Spritzen aufzieht. Denn: Ricci will schöner sein. Damit meint er pralle Muskeln, breite Schultern und dicke Adern.

So erzählt es Ricci beim Gespräch mit SonntagsBlick. Inzwischen ist er seit einem Jahr clean. Zurzeit arbeitet er als Trainer in einem Studio und will anonym bleiben, um seinen Job nicht zu verlieren. «Man hat» oder «man ist», so spricht Ricci über sich. Das Wort «ich» verwendet er selten. Unsere Gesellschaft stigmatisiert Menschen, die Anabolika nehmen. Obwohl die «Pumper»-Substanzen weitverbreitet sind. Eine Studie des Zentrums für Suchtmedizin in Zürich schlussfolgert, dass in der Schweiz mehr als 200 000 Menschen im Verlauf ihres Lebens Anabolika konsumieren. Tendenz steigend.

Die Untersuchung leitete Philip Bruggmann (51), Facharzt Allgemeine Innere Medizin. Er sagt: «Ideale Körperbilder verbreiten sich über soziale Netzwerke. Junge Menschen vergleichen sich mit Personen, die Anabolika konsumieren. Sie wollen auch so aussehen und greifen zu Steroiden. So entsteht eine Spirale.»

Schlaganfälle als Nebenwirkung möglich

Online sprechen Influencer wie der Kraftsportler Mark Bell (46) über ihre Erfahrungen. Auf Instagram folgen ihm eine halbe Million Menschen. In einem Video sagt ein Gesprächspartner zu Bell: «Testosteron-Ersatztherapie beeinflusst dein Leben positiv. Du hast mehr Selbstbewusstsein und dein Körper verändert sich ein bisschen.» Risiken und Nebenwirkungen erwähnt er nicht. Ricci hat sich solche Videos und Podcasts reingezogen. Um sich zu informieren, hat er Youtube und zahlreiche Foren durchstöbert. Auch seine «Pumper»-Freunde fragte er um Rat.

Für Professor Bruggmann ist das typisch: «Nicht speziell zu Anabolika geschulte Ärzte reagieren meist zurückhaltend bis hin zu stigmatisierend.» Oft fehle das Wissen für eine solide Beratung. Als Folge wenden sich Betroffene an ihre Community. Das Problem dabei: Dort wird meist kein Fach-, sondern bestenfalls Halbwissen vermittelt. Die Risiken werden verharmlost und positive Effekte betont.

Das endet oft verheerend. Als Nebenwirkung von Anabolika können sich zum Beispiel die Herzkranzgefässe verengen. Auch Schlaganfälle sind möglich. Bruggmann erklärt: «In der Medizin erhalten Personen eine Testosteron-Ersatztherapie, wenn ihre körpereigene Produktion zu niedrig ist. Dabei handelt es sich um vergleichsweise geringe Mengen.» Um einen starken Muskelzuwachs zu erzielen, benötige es viel mehr Testosteron. «Bei diesen hohen Dosierungen sind Nebenwirkungen unumgänglich.»

Andere Wirkstoffe als angegeben

Ricci nahm das in Kauf. Nach seiner ersten Woche als Spritzensportler begann seine Nase zu bluten, und er bekam Akne auf dem Rücken. Bald fielen Kopfhaare aus. Die Brustdrüsen wurden grösser, während die Hoden schrumpften. Sex wollte er keinen mehr – eine typische Folge von Anabolika. Onlineshops versprechen Hilfe und platzieren Testosteron-Dosen gleich neben Viagra-Pillen. Ricci fühlte sich zunehmend unwohl. Er liess sich Haare transplantieren, die Brustdrüsen operativ verkleinern. Dann setzte er alle Substanzen ab und wurde depressiv. Anabolika machen süchtig.

Und damit sind die Gefahren noch nicht einmal alle aufgezählt. Gemäss dem Zentrum für Suchtmedizin sind drei Viertel aller Anabolika-Produkte gefälscht. Sie enthalten andere Wirkstoffe als angegeben oder sind nicht korrekt dosiert. Im Internet und von Dealern werden Medikamente verhökert, die aus der Tiermedizin stammen. Oder illegale Substanzen, die in geheimen Labors hergestellt und über den Schwarzmarkt vertrieben werden. Für kriminelle Netzwerke ein Multimillionen-Franken-Geschäft.

Selbst Teenager wollen Anabolika

Das bestätigt auch Jonas Personeni von der Stiftung Swiss Sport Integrity (SSI): «Die verbotenen Dopingmittel stammen hauptsächlich aus Osteuropa sowie asiatischen Ländern.» SSI arbeitet mit den Strafverfolgungsbehörden zusammen und untersucht abgefangene verbotene Substanzen. In den letzten Jahren ist die Zahl der Importe von Anabolika gestiegen, was darauf hindeutet, dass es einen Trend hin zu diesen Produkten gibt.

Das beobachtet auch Ricci bei seiner Arbeit im Fitnesscenter. Immer mehr Interessierte kommen zu ihm mit Fragen. «Sogar 16-Jährige wollen Testo ausprobieren.» Eine bedenkliche Entwicklung, findet sogar er. Zurzeit konsumiert Ricci keine Anabolika. Aber: «Eines Tages will ich vielleicht wieder damit anfangen.» Ricci vermisst die Kraft beim Training. Und die prallen Muskeln, wenn er vor dem Spiegel steht.

* Name geändert


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