Letztes Jahr haben die SBB die Hoffnung von Gianni Chiellini* (54) ausgelöscht. «Uns liegen andere Bewerbungen vor, die dem Stellenprofil noch besser entsprechen», schreibt die Bahn in einer Absage auf seine Bewerbung als fest angestellte Reinigungsfachkraft. Chiellini sagt dazu: «Es gibt wohl keinen, der all die verschiedenen Aspekte der Zugreinigung so gut kennt wie ich. Ich mache es seit 16 Jahren als Temporärer und könnte es im Schlaf.»
Das Schlimmste aber sei, dass man ihm immer wieder verspreche, er werde bald fest angestellt. «Wenn dann aber eine Stelle offen ist, erhalte ich sie trotzdem nicht. Warum sollte ich jetzt noch daran glauben?»
Im Kontrast dazu steht eine Aussage von SBB-Sprecher Christian Ginsig im SonntagsBlick. «Wir sind auch in Zukunft daran interessiert, fachlich kompetente Mitarbeitende bei einem längerfristigen Engagement an die SBB zu binden, denn auch wir spüren den Fachkräftemangel», sagte er im Kontext anschwellender Temporärzahlen bei den SBB.
Kündigungsfrist beträgt höchstens einen Monat
Diese sind in vier Jahren um 380 auf 3253 im Jahr 2018 gestiegen. Und noch eine Zahl: Die SBB haben vorletzte Woche auch dank ihres Sparprogramms Railfit 20/30 einen Rekordgewinn von 568 Millionen Franken eingefahren. Doch auf wessen Kosten?
Temporärangestellte erhalten anders als Festangestellte keinen Fixlohn, sondern verdienen pro Stunde. Je mehr sie arbeiten, desto mehr bekommen sie. Der Arbeitgeber zahlt Temporärarbeitern bei einem Top-Ergebnis wie letztes Jahr keinen Bonus aus. Die Kündigungsfrist beträgt je nach Anstellungsdauer im Maximum einen Monat. Das GA, das die meisten Festangestellten gratis erhalten, müssen Temporäre aus dem eigenen Sack bezahlen.
BLICK trifft Chiellini an dessen Wohnort, einer Kleinstadt im Mittelland, zum Kaffee. Er hat Angst, dass die SBB oder das zuständige Temporärbüro seine Identität herausfinden und ihn rauswerfen. Personen, die seit so langer Zeit temporär angestellt sind, gibt es wohl nicht viele. Darum verzichtet BLICK auf genauere Angaben zu seiner Person.
Chiellini übergibt BLICK die Dokumente, die seinen Fall stützen. Darunter sind nicht nur die Anstellungsverträge über das Temporärbüro an verschiedenen Standorten, sondern auch Weiterbildungsbestätigungen und hervorragende Arbeitszeugnisse.
«So einen krassen Fall habe ich noch nie gesehen»
«Ich wusste von Personen, die bis zu zehn Jahre bei den SBB temporär angestellt waren», sagt Jürg Hurni (57), Sekretär der Gewerkschaft des Verkehrspersonals (SEV). «Aber so einen krassen Fall habe ich noch nie gesehen.» Ein grosses Problem sei unter anderem, dass sich viele Temporäre nicht trauten aufzumucken, weil sie und ihre Familien von diesem einen Job abhängig seien. Der Gewerkschafter nennt das Sparen der SBB auf dem Buckel der Schwächsten «schäbig und eines ehemaligen Bundesbetriebes unwürdig».
BLICK konfrontiert die SBB mit dem extremen Fall von Gianni Chiellini. SBB-Sprecher Ginsig verweist auf eine separate Zusatzvereinbarung zwischen den Sozialpartnern und den SBB zum GAV, die 2015 in Kraft getreten ist. Dort steht, dass Temporärangestellte nach vier Jahren eine Festanstellung erhalten sollen, sofern eine Stelle frei ist. Bloss: Chiellini probierte es 2012 und 2016 jeweils während weniger Monate bei einem anderen Arbeitgeber und hat dann wieder zu den SBB zurückgewechselt. Auf die vier Jahre konnte er so nicht kommen.
Die ständige Angst im Nacken
Noch blöder für ihn: Im neuen GAV, der im Mai in Kraft tritt, ist die Vier-Jahre-Klausel nicht mehr zu finden. Gewerkschafter Hurni erklärt: «Wir haben gemerkt, dass die Temporären jeweils kurz vor Erreichen der vier Jahre ersetzt wurden. Also brachte diese Regelung kaum etwas.» Stattdessen habe man sich anderswo durchsetzen können, zum Beispiel bei der Obergrenze von vier Prozent Temporären beim SBB-Personal.
Chiellini bringt das alles gar nichts. «Die SBB sind für viele in der Schweiz ein Vorzeigebetrieb, und zu weiten Teilen stimmt das auch», sagt er. Insbesondere in der Reinigung komme es aber regelmässig zu Ungerechtigkeiten. «Wenn ich endlich eine Festanstellung erhielte, würde ich genau gleich weiterleben. Ausser dass ich diese ständige Angst nicht mehr im Nacken hätte.»