Einen Überschuss von 568 Millionen Franken vermeldeten die SBB diese Woche – das beste Ergebnis, seit die Bundesbahnen 1999 zu einer Aktiengesellschaft wurden.
Matthias Weber* empfindet diese Meldung als blanken Hohn. Seit mehr als fünf Jahren läuft er mit Leuchtweste und Plastiksack durch die Züge, um den Abfall der Passagiere wegzuräumen. Und doch ist er bis heute kein SBB-Mitarbeiter. Weber ist nur «temporär» für den Staatskonzern tätig, über eine Drittfirma angeheuert und im Stundenlohn bezahlt. Der Schutz des SBB-Gesamtarbeitsvertrags (GAV) gilt für ihn nicht.
Zu BLICK sagt er frustriert: «Viele Passagiere schätzen unsere Arbeit. Von den SBB spüre ich dagegen keine Wertschätzung. Die jahrelange Temporäranstellung fühlt sich an wie ein Schleudersitz.»
Temporäre gehen bei Zuschlägen leer aus
Die Löhne von Temporär- und Festangestellten lassen sich kaum vergleichen. Die einen erhalten einen Stundenlohn, bei dem die Ansprüche auf Ferien, Feiertage und 13. Monatslohn inbegriffen sind. Die anderen erhalten in der Regel einen fixen Monatslohn.
Webers Arbeitsbedingungen sind im Vergleich mit festangestellten Reinigungskräften der SBB deutlich schlechter. Seine Kündigungsfrist beträgt nicht sechs, sondern einen Monat. Reguläre Reinigungskräfte erhalten Zuschläge für besonders mühsame Arbeiten wie das Putzen stark verschmutzter WCs. Temporäre gehen leer aus.
SBB-Mitarbeiter, die mindestens 50 Prozent arbeiten, bekommen ein Gratis-GA. Weber muss das tägliche Pendeln von der Innerschweiz an den Hauptbahnhof Zürich selbst berappen. Von den im SBB-GAV vereinbarten Regelungen zu Ferien, Urlaub oder Treueprämien kann er ebenfalls nur träumen.
Am schlimmsten aber sei die jahrelange Unsicherheit: «Werde ich krank oder falle ich aus anderen Gründen aus, kommt auch kein Geld mehr rein.» Geplant war es anders. Weber: «Als ich angefangen habe, hat man mir versprochen, dass ich nach vier Jahren eine Festanstellung bekomme. Doch daraus ist bis heute nichts geworden. Ich werde immer wieder vertröstet.»
Sprunghafter Anstieg
Matthias Weber ist kein Einzelfall. Im Gegenteil, die SBB beschäftigen immer mehr Temporäre. Vor fünf Jahren waren es noch 1120, im vergangenen Jahr wuchs ihre Zahl auf 3253.
Den sprunghaften Anstieg 2015 erklären die SBB mit einer Änderung der Berechnungsgrundlage. Allerdings kamen in den vier Jahren nach dieser Berechnungsanpassung erneut 380 Temporäre dazu – während der reguläre Personalbestand im gleichen Zeitraum um 772 auf 32 309 Vollzeitstellen abnahm.
Für Jürg Hurni (57), Sekretär der Gewerkschaft des Verkehrspersonals, steht fest: «Die SBB engagieren immer mehr Temporäre, um Personalkosten zu sparen. Fällt ein Temporärer krankheitshalber aus, tut das den SBB nicht weh, da sie ihn dann auch nicht bezahlen müssen.»
Die meisten Temporären sind im Bereich Personenverkehr tätig. Jürg Hurni: «Nicht nur in der Zugreinigung, sondern auch in den Werkstätten.» Im SBB-Werk Olten etwa seien rund 300 der 800 Büezer nicht dem ordentlichen GAV unterstellt. Ihre offiziellen Arbeitgeber sind Firmen wie Adecco Human Resources, Das Team, Interiman Group Services, Kelly Services, Manpower oder Randstad.
«Brechen von Personalspitzen»
Die SBB rechtfertigen den Einsatz von Temporären mit dem «Brechen von Personalspitzen». Sprecher Christian Ginsig: «Wir greifen auf Temporärarbeitende zurück, um grosse Auftragsvolumina abzudecken, um Personalressourcen flexibel einsetzen zu können und die benötigte Verfügbarkeit sicherzustellen. Oder auch, um eine spezifische Expertise oder eine Aussensicht einzuholen.»
Solche Mitarbeiter würden über Rahmenverträge angestellt, die mit verschiedenen Personaldienstleistern abgeschlossen sind. Die Regeln dafür seien im Rahmen des GAV mit den Sozialpartnern geregelt.
Von einer bewussten Förderung der Temporärarbeit will die Bahn nichts wissen. «Wir sind auch in Zukunft daran interessiert, fachlich kompetente Mitarbeitende bei einem längerfristigen Engagement an die SBB zu binden, denn auch wir spüren den Fachkräftemangel», so Ginsig.
Anstieg der Krankheitsfälle
Doch die neuen Personalstatistiken der SBB lassen nicht nur aufhorchen, was die Temporären betrifft: Für Gesprächsstoff sorgt auch die Tatsache, dass die SBB-Mitarbeiter – jene mit besseren Arbeitsbedingungen als Matthias Weber – Jahr für Jahr häufiger krank sind. 2014 fielen sie im Schnitt 84 Stunden pro Jahr aus, 2019 waren es bereits 93 Stunden pro Vollzeitstelle!
Damit fehlen SBB-Mitarbeiter deutlich häufiger aus gesundheitlichen Gründen als die Angestellten anderer Betriebe. Im Durchschnitt summieren sich die Absenzen pro Vollzeitstelle und Jahr in der Schweiz nämlich auf nur 59 Stunden – infolge von Krankheit und Unfall. Das zeigen Zahlen des Bundesamts für Statistik für das Jahr 2017.
Gewerkschafter Jürg Hurni sagt dazu: «Die stetig steigenden Absenzen sind klar auf die Belastung des Personals, die vielen Projekte und Veränderungen zurückzuführen. Das Personal läuft in verschiedenen Bereichen am Anschlag.»
Auch die Bahn selbst will das Problem nicht schönreden. «Absenzen sind ein Dauerthema bei den SBB und die Entwicklungen werden sehr genau beobachtet», erklärt Firmensprecher Ginsig. Besondere Aufmerksamkeit gelte den Langzeitabsenzen. Die SBB hätten verschiedene Massnahmen getroffen, um Mitarbeitende wieder in den Arbeitsalltag zu integrieren.
Trotz alledem: Der Bund als Eigentümer ist mit den SBB als Arbeitgeberin hoch zufrieden. Diesen Freitag veröffentlichte der Bundesrat seinen Bericht über die Erreichung der strategischen Ziele im Jahr 2018. Der hebt hervor, dass sich die Effizienzmassnahmen des Sparprogramms «Railfit» positiv auf das Konzernergebnis ausgewirkt hätten. Zudem betrieben die SBB «eine fortschrittliche und sozial verantwortliche Personalpolitik».
Matthias Weber, seit mehr als fünf Jahren temporäre SBB-Reinigungskraft, muss laut lachen, als er diese Beschreibung hört.
* Name von der Redaktion geändert