Wer in der Schweiz zu Hause ist, beansprucht im Schnitt eine Wohnfläche von 46 Quadratmetern. Es gibt jedoch eine Gesellschaftsgruppe, die auf deutlich grösserem Fuss lebt: Seniorinnen und Senioren.
In Haushalten, in denen ausschliesslich über 65-Jährige wohnen, beträgt der durchschnittliche Wohnraum pro Person 70,5 Quadratmeter – ein absoluter Spitzenwert.
Auch Sonia Stahl (67) nimmt mehr Wohnraum in Anspruch als der Durchschnittsschweizer. Die pensionierte Sozialarbeiterin lebt mit ihrem Mann in einer 100-Quadratmeter-Wohnung in Zürich-Oerlikon. Dekadent ist das nicht. Dennoch sagt Stahl: «Eigentlich ist die Wohnung zu gross für uns. Büro und Fernsehzimmer wären nicht nötig.» Früher sei es jedoch anders gewesen: «Als unsere Tochter und unser Sohn noch zu Hause lebten, war die Wohnung komplett ausgenutzt.»
So wie Sonia Stahl geht es vielen: Sie suchen sich ihre Mietwohnung oder ihr Eigenheim, wenn die Kinder klein sind. Wohnfläche und Zimmerzahl werden auf den Nachwuchs ausgerichtet. Doch ist dieser ausgeflogen, bleibt man im gemachten Nest.
Die Sesshaftigkeit der Altersgruppe 65 plus
«Fast jeder Mensch hat den Wunsch, in den eigenen vier Wänden, in der vertrauten Umgebung alt zu werden», weiss Sonya Kuchen von Pro Senectute Schweiz. Das sei ein absolut normales Bedürfnis, da Veränderungen mit zunehmendem Alter zusehends schwerfallen: «Das Wissen, wo etwa welche Geschäfte oder Bushaltestellen sind, erleichtert es älteren Menschen ungemein, länger selbständig in ihrer Wohnung oder ihrem Haus zu leben.»
Das Problem dabei: Die Lage auf dem Schweizer Immobilienmarkt ist extrem angespannt. Die Mieten steigen stetig. Preise für Eigentumswohnungen und Einfamilienhäuser sind während der Corona-Krise gar explodiert.
Hauptursachen sind Bevölkerungswachstum, der Wunsch nach mehr Wohnraum und die Anlagestrategien renditeorientierter Anleger. Verschärft wird die Situation aber durch die Sesshaftigkeit der Altersgruppe 65 plus.
Eine Sprecherin des Bundesamtes für Wohnungswesen (BWO) sagt dazu: «Durch den längeren Verbleib im Einfamilienhaus ist die ältere Generation mitbestimmend dafür, dass weniger Einfamilienhäuser auf den Markt kommen.»
Bei Wohnungswechsel steigen die Mieten
Donato Scognamiglio (51), CEO des Immobilienberatungsunternehmens Iazi, beurteilt die Lage ähnlich: «Viele ältere Menschen leben in zu grossen Häusern.» Gleichzeitig nimmt er die Babyboomer-Generation aber in Schutz: «Oft möchten die Besitzer ihre Liegenschaften an die nächste Generation weitergeben. Doch das ist nicht immer möglich.»
Ein grosses Problem seien zudem die finanziellen Folgen eines Umzugs. Scognamiglio: «Es ist eher unrealistisch, dass ältere Menschen eine Wohnung finden, die etwa gleich viel kostet wie ihr Wohneigentum.» Die Sprecherin des BWO sagt es noch deutlicher: «Wenn die Hypothek zu grossen Teilen abbezahlt ist und nur noch ein tiefer Zins bezahlt werden muss, sind die Wohnkosten auch in einer deutlich kleineren Wohnung meist merklich höher.»
Mietern und Mieterinnen ergeht es diesbezüglich nicht besser. Ganz im Gegenteil, wie das Beispiel von Sonia Stahl zeigt. Da sie und ihr Mann seit vielen Jahren in der gleichen Wohnung leben, bezahlen sie deutlich weniger Miete als jene, die erst kürzlich eingezogen sind. Bei einem Wohnungswechsel würde dieser Altersbonus jedoch auf einen Schlag wegfallen.
Stahl: «Für den gleichen Mietzins würden wir uns gerne mit einer 60-Quadratmeter-Wohnung begnügen. Doch eine solche Wohnung ist auf dem freien Markt kaum zu bekommen. Zumindest nicht in Zürich – und erst recht nicht, wenn die Wohnung altersgerecht sein soll.»
Tauschprojekte laufen nur schleppend an
Um dieses Problem zu beheben, hat Basel-Stadt vor vier Jahren das Projekt «Sicheres Wohnen im Alter» lanciert. Das Ziel: älteren Mietern eine Wohnung anbieten zu können, die ihren Bedürfnissen entspricht – und ohne dass der Mietzins steigt. Voraussetzung: Die neue Wohnung muss um mindestens zehn Prozent kleiner sein als die bisherige.
So gut die Idee, so bescheiden der Erfolg. Bis jetzt wurden erst sechs Wohnungen vermittelt. Das Hauptproblem: Zurzeit stellen nur Kanton, Pensionskasse und Gebäudeversicherung Basel-Stadt ihre Mietwohnungen für das Projekt zur Verfügung. Private Eigentümer sträuben sich. Der Wohnungspool ist deshalb zu klein für eine attraktive Auswahl.
Die Stadt Zürich hat vor kurzem ein ähnliches Projekt ins Leben gerufen. Ohne die Unterstützung von institutionellen Anlegern dürfte das Projekt aber ebenfalls zum Scheitern verurteilt sein. Schliesslich ist die grösste Stadt der Schweiz schon heute heillos überfordert, wenn es um Alterswohnungen geht.
Zuletzt zeigte sich dies im vergangenen Mai, als Gesundheitsvorsteher Andreas Hauri (54, GLP) bekannt gab, die Warteliste der Stiftung für Alterswohnungen (SAW) abschaffen zu wollen. Stattdessen sollte in Zukunft das Los entscheiden, wer eine bezahlbare Alterswohnung erhält. Die Ankündigung löste einen Sturm der Entrüstung aus. Vor allem jene der 4000 Angemeldeten, die nach Jahren des Wartens zuoberst auf der Liste standen, fühlten sich hintergangen.
Politik hat es verpasst, geeigneten Wohnraum für Senioren zu schaffen
Dazu gehörte auch Sonia Stahl. Sie und ihr Mann hatten sich vor acht Jahren bei der SAW angemeldet und rechneten damit, im Laufe der nächsten Jahre eine passende Wohnung zu erhalten. «Als plötzlich diese Lotterie ausgerufen wurde, war das ein Schock für uns.»
Zusammen mit anderen Betroffenen ging Stahl auf die Barrikaden. Mit Erfolg: Gesundheitsvorsteher Hauri machte zumindest einen Teilrückzieher. Das Lossystem soll nun erst 2024 eingeführt werden. Stahl hofft, dass sie bis dahin versorgt ist. An ihrer grundsätzlichen Kritik würde aber auch das nichts ändern: «Die Politik hat es komplett verschlafen, geeigneten Wohnraum für Seniorinnen und Senioren zu schaffen.»
Für die Direktbetroffenen ist dieses Versäumnis eine Qual. Indirekt sind davon aber auch all jene betroffen, die auf der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung sind.