Die Schweiz hat einen neuen orangen Riesen: Temu, sprich «Ti-Mu». Die chinesische Shopping-App bietet Eiswürfelformen, LED-Lichter und Socken zu einem Bruchteil der in Läden gebotenen Preise. Besonders in Sachen Kleidung verspricht Temu grosses Einsparpotenzial.
Wir wollten wissen, ob die App hält, was sie anpreist. Bestellvorgang, Material, Rücksendeverfahren – das ist das Fazit zum neuen orangen Riesen.
Die App ist schnell gefunden, sie rangiert seit ein paar Wochen auf den obersten Plätzen der Top-Gratis-Apps. Um zu bestellen, ist eine Registrierung erforderlich. Der Bestellprozess ist simpel: Ein Klick, dann sind die gewünschten Artikel im Warenkorb, der Weg zur «Kasse» findet sich sehr intuitiv. Etwas störend sind die Zwischenschritte, bei denen Artikel eingeblendet werden, die ich mir unbedingt jetzt noch dazukaufen soll. «Nudging» par excellence – eine Verkaufsstrategie, die laut Marketingexpertinnen zu Impulskäufen führen soll.
Am 29. Juli befanden sich in meinem Einkaufskorb bei Temu diverse Kleidungsstücke wie Jeans, T-Shirts, ein Kleid und eine Bluse. Der Preis für alles zusammen: günstige 53.37 Franken. Der ursprüngliche Preis betrug 135.94 Franken, aber Temu reduzierte meinen Einkauf um etwas mehr als 80 Franken – durch Rabatte und zeitlich begrenzte Aktionen.
Ein zusätzlicher Bonus hielt der chinesische Riese ebenfalls bereit: keine exorbitanten Versandkosten. Das dank dem seit 1875 existierenden Weltpostvertrag. Demnach gilt das Gebiet der Mitgliedstaaten als eine einzige Postzone und lässt billigere Sendungen zu. Die Volksrepublik China ist seit 1914 Mitglied, die Schweiz von Beginn an.
Mit einer Flut an E-Mails stets auf dem Laufenden
Günstiger Preis, günstiger Versand – es braucht einen Klick, und die Bestellung ist bestätigt. Beinahe zeitgleich flattert eine Auftragsbestätigung in das E-Mail-Postfach. Ab diesem Zeitpunkt versiegt der Strom an E-Mails nicht: Ich werde über jeden Schritt des Versandprozesses informiert, bis die Bestellung angekommen ist. Das ist bereits vier Arbeitstage später der Fall, am 3. August. Schade eigentlich, wäre die Bestellung später als angekündigt gekommen, hätte Temu mir nochmals 5 Franken Rabatt gegeben.
Das Paket, grell orange und verklebt wie eine Kinderbastelarbeit, liegt im Hauseingang. Zum Auspacken braucht es eine Schere, an Klebeband wurde nicht gespart. Wie die Verpackung präsentiert sich auch der Inhalt: Jedes Kleidungsstück ist einzeln in Plastiksäcke eingepackt. Die Ironie an der Sache: Auf jedem der verpackten Stücke ist mit mangelnden Grammatikkenntnissen aufgedruckt: «Die Welt gehort uns allen wir mussen sie schutzeni.»
Hochwertiger Schein, stinkende Stoffe
Das Erste, das einem beim Auspacken der Jeans entgegenschlägt: eine Welle Chlorgestank. Die Hose riecht wie ein Hallenbad. Auf dem Etikett steht «90 Prozent Baumwolle, 10 Prozent Elasthan» – der Gestank lässt auf die umgekehrte Zusammensetzung schliessen. Das Kleid hingegen riecht nur dezent nach Plastik. Dafür ist es aus einer Art Plüschstoff – auf den Bildern hatte das wie gestrickte Wollstruktur ausgesehen. Wenig schön, aber auch nicht störend und immerhin angenehm zu tragen.
Dieser Artikel wurde erstmals im kostenpflichtigen Angebot von handelszeitung.ch veröffentlicht. Blick+-Nutzer haben exklusiv Zugriff im Rahmen ihres Abonnements. Weitere spannende Artikel findest du unter www.handelszeitung.ch.
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Dass Unterschiede zwischen der auf Bildern suggerierten Qualität sowie dem tatsächlichen Produkt bestehen, sei keine Seltenheit, wie Alexandra Scherrer, CEO der auf E-Commerce spezialisierten Unternehmensberatung Carpathia weiss: «Äusserlich kann das Produkt den Schein erwecken, hochwertig zu sein. Dann kennt man aber das Innenleben noch nicht oder die Zusammensetzung der verwendeten Materialien.»
Das geht gar so weit, dass die Produkte Giftstoffe enthalten. Jüngst in den Schlagzeilen war diesbezüglich der Billigmodeanbieter Shein. Diverse Tests zeigten, dass die verwendeten Materialien von Kindermode Giftstoffe enthalten. Bei Temu gibt es bis anhin keine vergleichbaren Fälle.
Chinesische T-Shirts versus Schweizer Waschmaschine
Dafür hat diese Zeitung die Temu-Produkte dem Waschganghärtetest unterzogen. Vier Shirts im Kombipack für verschiedene Wäschegrade:
Einen Waschgang mit vierzig Grad und anschliessendem Starktumblern hat das erste Shirt gut weggesteckt. Elastizität, Grösse und Behaftung des synthetischen Stoffes blieben unverändert. Auch das zweite Shirt bestand den Test: Nach dem Waschen bei sechzig Grad blieb die Beschaffenheit, wie sie war. Erst bei neunzig Grad sah die Situation anders aus: Der Stoff hatte sich verformt, einzelne Nähte hatten sich gelöst. Das ist normal, gemäss Waschmittelhersteller Perwoll sollten Polyester und Nylon Temperaturen von bis zu sechzig Grad Celsius standhalten.
Odyssee der Rücksendung fällt kürzer aus als angenommen
Die Shirts haben also den Waschtest bestanden, die Jeans bleibt jedoch ein Sorgenkind. Nicht nur riecht sie extrem stark nach Chlor, sie entspricht auch nicht dem Bild in der App. Eine Rücksendung muss angemeldet werden. Über «Artikel zurücksenden» erscheint die Liste der bestellten Produkte. Nachdem ich die Hose angewählt habe, fragt Temu nach dem Grund für den Rückversand und gibt die Option, ein Bild hochzuladen.
Laut Temu steht mir ein Rücksendeauftrag gratis zur Verfügung. Das Geld wird wahlweise meinem Temu-Konto als Kredit gutgeschrieben oder auf meine Karte zurücküberwiesen.
Sorgfältig habe ich die Hose wieder eingepackt und den Rücksendeauftrag abgeschickt. Kurz nachdem der Auftrag aufgegeben war, kam jedoch die Meldung «No need to return» – muss nicht retourniert werden. Wie bitte? David Hachfeld, Textilexperte bei Public Eye sagt: «Die Bearbeitung von Retouren mit geringem Warenwert ist meist kostspieliger als das Produkt. Es ist davon auszugehen, dass eine bestimmte Retourenquote von den Händlern eingepreist ist.»
Meine übel riechende Hose wandert in den Müll, und für Hachfeld stellt das genau das Problem von Temu dar: «Wie auch der Online-Modehändler Shein forciert Temu eine Wegwerfmentalität bei Konsumgütern, bei der es egal ist, ob Ressourcen verschwendet werden oder ob zu Armutslöhnen produziert wird.»
Fazit zu Temu: Kundenorientierung, aber zu welchem Preis?
Der Anbieter scheint im Bereich Verkauf und Kundenorientierung alle Register gezogen zu haben. «Temu ist extrem stark beim Auftritt in den sozialen Medien und punktet mit erschreckend tiefen Preisen. Nicht nur wie Shein im Bereich Mode, sondern auch bei vielen Non-Food-Kleinartikeln», sagt Bernhard Egger, Geschäftsführer von Handelsverband.swiss, der Schweizer Retailbranchenorganisation von 400 stationären und Online-Händlern. Zudem unterstützen eine schnelle Abwicklung, abertausend Rabatte und die klare Orientierung das positive Einkaufserlebnis.
Und doch stellt sich weiterhin die Frage: Soll man diese Billiganbieter effektiv unterstützen? «Was man zu den Themen Plagiate, Produktionsethik und zu den Bedingungen entlang der ganzen Lieferkette hört, ist sehr bedenklich», meint Egger. Ausserdem versendet Temu die Ware mit dem Flugzeug, ökologisch gesehen ein Albtraum. Den Höhepunkt der Ironie markierten die Hinweise für den Umweltschutz auf den einzelnen Plastikbeuteln. Ob ich wieder bei Temu bestellen würde? Meine Antwort ist ein klares Nein. Denn nicht nur hat mich die Qualität nicht überzeugt, auch gesellschaftlich stehen diese Anbieter meines Erachtens zu oft in der Kritik.