Lange galt die Schweiz als Eisenbahn-Weltmeister. Doch trifft das überhaupt noch zu?
Der meistgenannte Anwärter auf den Titel ist nämlich nicht mehr die Schweiz, sondern Japan. Dort misst man Verspätungen nicht in Minuten, sondern in Sekunden. Denn die Shinkansen, wie die Japaner ihre Hochgeschwindigkeitszüge nennen, sind nicht nur schnell, sondern auch extrem pünktlich. Im Drei-Minuten-Takt verbinden die Flitzer der sieben privaten japanischen Bahngesellschaften die grossen Zentren. Das Netz funktioniert wie am Schnürchen, Ausfälle sind sehr selten.
Gravierende Ressourcenprobleme» in Europa
Anders sieht das in Europa aus. «Überall haben die Bahnen gravierende Ressourcenprobleme», sagt Walter von Andrian, Chefredaktor der «Schweizer Eisenbahn-Revue». «Sie leiden unter Mangel an Personal, Fahrzeugen sowie Streckenkapazitäten, und sie sind mit dem Unterhalt im Rückstand.» Dies deshalb, weil man immer mehr Leute transportieren müsse und um des guten finanziellen Ergebnisses willen überall extrem spare. «Deshalb fehlt es an Reserven für einen stabilen Betrieb. Das Bahnsystem kann so auf Dauer kaum aufrechterhalten werden.»
Dabei spielt es keine Rolle, ob die Bahnen von monopolistischen Staatsbetrieben oder von privaten Gesellschaften geführt werden.
In Norwegen geht es zurzeit der Staatsbahn an den Kragen. Das Land vergibt neu Konzessionen für seine Teilnetze. Zwei von drei grossen Paketen wurden bereits verteilt. Den Zuschlag erhielten die schwedische Bahngesellschaft SJ und die britische Go-Ahead-Gruppe. Ob das gut kommt? Die schwedischen Züge sind die unpünktlichsten in Europa, die Qualität des total liberalisierten Bahnsystems nimmt laufend ab, die Preise steigen. Und in Grossbritannien wünschen nicht wenige, dass die 1994 vollzogene Bahnprivatisierung wieder rückgängig gemacht wird.
Regionen sind miserabel erschlossen
Praktisch alle Bahnen in Europa konzentrieren sich auf die Hauptachsen zwischen den Zentren. Besonders ausgeprägt ist das in Italien der Fall. Moderne Hochgeschwindigkeitszüge rasen zwischen Mailand und Neapel hin und her – durch Regionen, die miserabel erschlossen sind. Deutschland versucht dieser Tendenz mittlerweile entgegenzuwirken und den Regionalverkehr zu stärken, aber das Image der Deutschen Bahn ist schlecht.
Das gilt auch für die SBB, die seit Monaten für negative Schlagzeilen sorgen: überfüllte Waggons, Verspätungen, Wackelzüge, Personalnotstand. Und schliesslich der tödliche Unfall in Baden, bei dem ein Zugbegleiter wegen einer defekten Türe ums Leben kam. Bahn-Experte Paul Stopper (72): «Andreas Meyer versteht wenig vom Alltagsbetrieb der Bahn. Und die Qualitätskontrolle ist von geringer Qualität, weil man beim Personal spart. Stattdessen wurde die Verwaltung aufgebläht.»
Und doch sticht die Schweiz in Europa nach wie vor heraus: Sie verfügt über ein integrales ÖV-System, das Zentren und Regionen, Grossstädte und Bergdörfer verbindet. In diesem Mischsystem aus Fern- und Regional-, Güter- und Personenverkehr sind die SBB ein zentraler Pfeiler.
«Dieses System funktioniert sehr gut», sagt Alexander Erath (38), Professor für Verkehr und Mobilität an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Insofern sei die Schweiz immer noch eine der besten Adressen weltweit. «Wir lassen uns das aber auch etwas kosten. Darin sind wir ebenfalls Weltmeister!»