Das Selbstmordrisiko für Landwirte in der Schweiz liegt um 37 Prozent über dem der Durchschnittsbevölkerung. Das zeigt eine Nationalfonds-Studie von 2018.
CVP-Nationalrat Markus Ritter (53), Präsident des Schweizer Bauernverbandes, erklärt: «Die hohe Suizidrate unter den Bauern steht in engem Zusammenhang mit dem finanziellen Druck auf diesen Berufsstand.»
Für den Druck verantwortlich sind Detailhändler, allen voran Migros und Coop. Sie machen 70 Prozent des Umsatzes im nationalen Lebensmittelmarkt. «Diese Marktmacht ermöglicht es ihnen, die den Bauern für ihre Erzeugnisse bezahlten Preise nach unten zu drücken», hat Mathias Binswanger (57) herausgefunden.
Rohstoffe als Basis
Der Wirtschaftsprofessor an der Fachhochschule Nordwestschweiz geht sogar noch weiter: «Sie diktieren den Bauern auch, welche Art von Erzeugnissen sie wollen.» In der Regel sind es Rohstoffe wie Weizen, Rindfleisch oder Rohmilch als Basis für viele veredelte Produkte in den Einkaufsregalen. Mit denen lässt sich viel Geld verdienen, anders als mit den Rohstoffen vom Bauernhof: Deren Preise sanken seit 1990 um rund 30 Prozent – wovon die Konsumenten nichts haben, weil die Lebensmittelpreise im Supermarkt in der gleichen Periode um 15 Prozent stiegen.
Nur: Wo ist das Geld geblieben? «Bei den Verarbeitern und Händlern», sagt Binswanger und verweist auf Zahlen von Deekeling Arndt Advisors. Die Beratungsfirma hat die Bruttomargen der Grossverteiler ausgerechnet, die Differenz zwischen Umsatzerlösen und Materialeinsatz. Bei Migros liegt sie bei etwa 40, bei Coop 30, im internationalen Durchschnitt bei 20 Prozent.
Die hohe Migros-Marge hat damit zu tun, dass der orange Riese stärker als andere Händler auch als Verarbeiter tätig ist.
Hohe Marge bei Lebensmitteln
Beide Grossverteiler betonen, sie gäben Rohstoff-Preissenkungen an die Kundschaft weiter. Für Detailhandelsexperte Ralf Beyeler (42) vom Onlinevergleichsdienst Moneyland hingegen ist klar: «Migros und Coop profitieren auf Kosten der Bauern und Konsumenten.» Gerade bei Bioprodukten sei die Marge der Lebensmittelhändler extrem hoch. «Im Vergleich zum konventionell hergestellten Fleisch erhalten die Bauern beim Biofleisch zwei Franken mehr pro Kilo. Aber im Laden bezahlt der Konsument rund 30 Franken mehr dafür.»
Thomas Roffler (49) ist Präsident des Bündner Bauernverbandes. Auf seinem Hof in Grüsch hält er 50 Braunvieh-Tiere. Er sagt: «Die Produktpreise sind nicht kostendeckend. Die Wertschöpfung beim Bauern stimmt nicht mehr.» 1970 gingen 55 Prozent der Beträge, die in der Schweiz für Lebensmittel bezahlt wurden, an die Landwirte. Heute sind es noch 15 Prozent.
«Die Bauern befinden sich in der landwirtschaftlichen Tretmühle», sagt Mathias Binswanger. In seinem neuen Buch «Mehr Wohlstand durch weniger Agrarfreihandel» kommt der Ökonom zum Schluss: «Nach Abzug sämtlicher Ausgaben bleibt kein Einkommen für die Bauern übrig. Ihr Überleben wird selbst bei dem heute bestehenden Grenzschutz nur dank der Subventionen möglich.»
Bauern geben mehr Geld aus
In der Schweiz sind das jährlich insgesamt drei Milliarden Franken. Doch reich werden die Bauern damit nicht. «Die Subventionen gehen zu einem nicht unerheblichen Teil an die der Landwirtschaft vor- und nachgelagerten Branchen», sagt Binswanger. So geben die Bauern immer mehr Geld für Maschinen, Futter- und Saatmittel aus, um die Produktivität zu erhöhen. «Davon profitieren wiederum Grossverteiler wie Migros und Coop in Form sinkender Kosten – zulasten der Steuerzahler, die die Subventionen an die Bauern finanzieren.»
Der Detailhandel widerspricht. «Das ist nicht korrekt», sagt Coop. Und Migros präzisiert: «Die Landwirtschaft erhält die von den Steuerzahlern finanzierten Direktzahlungen für ihre Leistungen wie Förderung der Biodiversität, Tierwohl und Landschaftsschutz. Diese können nicht an die Konsumenten weitergegeben werden.»
Der von Wirtschaftsexperte Binswanger aufgezeigte Mechanismus sei allerdings nicht von der Hand zu weisen, sagt Bauernpräsident Ritter: «Migros und Coop profitieren von den Steuerzahlern im Bereich der einkommenswirksamen Direktzahlungen, also etwa der Hälfte aller Direktzahlungen.»
Nachfrageseite selten im Visier
Wenn sich auf der Angebotsseite grosse Marktmacht ballt, werden staatliche Instanzen rasch aktiv. Das zeigen spektakuläre Verfahren gegen Internetgiganten wie Google. Marktmächtige Unternehmen auf der Nachfrageseite dagegen geraten selten ins Visier.
So präsentiert die Wettbewerbskommission zwar alljährlich eine stattliche Zahl von Sanktionen gegen illegale Preisabsprachen. Von übergrosser Marktmacht im Detailhandel aber hört man nie etwas.
Woran das liegt? «Die Marktdominanz der Grossverteiler ist komplex und der Missbrauch wird gut verborgen», sagt Rechtsanwalt Felix Schraner (44), Dozent für Wettbewerbsrecht an der ZHAW. «Sie nehmen oft über die gesamte Absatzkette hinweg Einfluss und die Produzenten sind häufig strukturell und finanziell von ihnen abhängig.»
Ansatzpunkte, das zu untersuchen, seien zweifellos da. «Aber es gibt bislang nur wenige Fälle und Entscheide in diesem Bereich.»
Nachfrageproblem, wenn Einkommen sinken
Für Markus Ritter ist klar: «Sinken die Einkommen der Bauern weiter, haben wir ein Nachfolgeproblem.» Vor 80 Jahren zählte die Schweiz 250'000 landwirtschaftliche Betriebe. Heute sind es noch 50'000. Ritter: «12'000 Betriebsleiter über 50 Jahre sagen aktuell, dass für ihren Hof keine Nachfolge zur Verfügung stehe. Dies ist eine alarmierende Entwicklung.»
Dabei gebe es für den Erhalt der Landwirtschaft gute Gründe, sagt Ökonom Binswanger. «Neben der eigentlichen Versorgungssicherheit sind es die multifunktionalen Leistungen der Bauern, die ins Gewicht fallen. Dazu gehören etwa die Pflege der Kulturlandschaft und die Aufrechterhaltung der Biodiversität.»
Doch wie kommen die Bauern aus der Tretmühle heraus? Detailhandelsexperte Beyeler: «Heute machen die Grossverteiler mit Bioprodukten den grossen Profit. Warum verkaufen die Landwirte ihr Biofleisch nicht selber?» Das sieht auch Bauer Roffler so: «Die Landwirtschaft muss wieder den Weg zum Konsumenten suchen, besonders im Labelbereich.»
Fast keine Direktvermarktung
Kilian Baumann (39) hat genau das getan. Der Berner Grünen-Nationalrat stellte seinen Biobetrieb auf Rindfleisch-Direktvermarktung um. «So bin ich nicht auf die Grossverteiler angewiesen. Ich kann meine Preise selber festsetzen.» Damit aber gehört Baumann zu einer Minderheit: In der Schweiz erzielen die Bauern lediglich fünf Prozent des Warenwerts über Direktvermarktung. «Das wird sich so schnell auch nicht ändern», sagt Rolf Hug (45), Leiter Gutsbetrieb des landwirtschaftlichen Bildungszentrums Plantahof im Churer Rheintal.
«Die landwirtschaftliche Urproduktion ist arbeitsintensiv. Nicht jeder Bauer hat die Kapazitäten, sich auch noch um professionelle Verarbeitung und Vermarktung zu kümmern.»