Politökonomin und Transformationsforscherin Maja Göpel im grossen WEF-Auftakt-Interview
«Die reibungsfreie Zeit ist vorbei»

Zum Beginn des Weltwirtschaftsforums in Davos brennt es an allen Ecken. Die Politökonomin Maja Göpel erklärt, wie wir künftige Konflikte verringern.
Publiziert: 22.05.2022 um 11:37 Uhr
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Aktualisiert: 22.05.2022 um 14:07 Uhr
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Rohstoffmangel als Chance? Maja Göpel hofft auf einen Sprung für die Dekarbonisierung und Kreislaufwirtschaft.
Foto: Fabiano Mancesti
Interview: Fabienne Kinzelmann

Frau Göpel, viele Menschen haben das Gefühl, dass wir mit dem Ukraine-Krieg in einer neuen Welt aufgewacht sind. Sie auch?
Maja Göpel: Ich würde sagen: Wir sind nur aufgewacht – nicht in einer neuen Welt. Natürlich ist das, was geo- und sicherheitspolitisch gerade passiert, wahnsinnig. Die Kriegsverbrechen, dass völkerrechtliche Abkommen genau während der Sitzung des Uno-Sicherheitsrats gebrochen werden oder Russland nach zwei Wochen Pause Raketen schickt, während der Uno-Generalsekretär in Kiew ist, machen fassungslos. Aber wenn wir uns fragen, wie es so weit kommen konnte, kann man sicherlich viele Indizien finden.

Warum kam das für Sie nicht überraschend?
Wir Menschen verändern die Welt permanent. Und das in einem Ausmass, das keine guten Konsequenzen haben wird: nicht für die Wirtschaft, nicht für ein friedliches Zusammenleben. Beim Krieg in der Ukraine sehen wir, dass die territoriale Frage untrennbar mit dem Ressourcenzugang verbunden ist. Wir müssen uns damit beschäftigen, unter welchen Bedingungen Menschen sicher, gut und friedlich zusammen existieren können. Der Umweltschutz etwa ist deswegen keine Einschränkung von Lebensqualität oder der menschlichen Freiheit, sondern ein Erhalten derjenigen in der Zukunft.

Persönlich: Maja Göpel

Die deutsche Professorin Maja Göpel (45) ist Politökonomin und Expertin für Nachhaltigkeitspolitik und Transformationsforschung. Sie gründete die Scientists 4 Future mit. Ihr letztes Buch «Unsere Welt neu denken: Eine Einladung» (Ullstein, 2020) schaffte es auf Platz eins der Bestsellerlisten.

Die deutsche Professorin Maja Göpel (45) ist Politökonomin und Expertin für Nachhaltigkeitspolitik und Transformationsforschung. Sie gründete die Scientists 4 Future mit. Ihr letztes Buch «Unsere Welt neu denken: Eine Einladung» (Ullstein, 2020) schaffte es auf Platz eins der Bestsellerlisten.

Klima, Corona, Krieg: Gerade fühlt es sich an, als kämen alle Krisen in immer kürzeren Abständen und wären immer schlimmer.
Das ist auch so. In bestimmten Gesellschaftsordnungen läuft es lange reibungsfrei. Die Gewinner von Globalisierungsprozessen etwa – das war ein Erfolgsmodell. Aber wenn man nicht früh genug merkt, dass sich bestimmte Umstände verändern, und die Art und Weise, Dinge zu tun, entsprechend anpasst, dann wird das ökonomische System, das wir aufgebaut haben, irgendwann nicht mehr mit dem sich verändernden Rahmenbedingungen zusammenpassen.

Ein Beispiel, bitte.
In komplexen Systemen haben wir immer bestimmte Puffer, zum Beispiel im ökologischen. Wir konnten auf ganz viele neue Materialien zugreifen, wenn einige knapp wurden. Auch in die Atmosphäre konnten wir zunächst mehr CO2 reinpusten, ohne dass sich die klimatische Entwicklung verändert. Aber irgendwann haben wir die Puffer so weit runterreduziert, dass wir an Grenzen stossen. Heute ist die Atmosphäre praktisch voll mit der Menge CO2, die sie für die für uns normalen klimatischen Bedingungen der letzten 10'000 Jahre aufnehmen kann. Wir müssen also damit aufhören, weiter CO2 reinzublasen, wenn wir keine katastrophalen Zustände wollen. Oder: Wenn wir Böden und Biodiversität schützen wollen, müssen wir bestimmte Flächen unter Schutz oder regenerative Nutzung stellen. Das aber kann mit der heute normalen Landwirtschaft, Infrastrukturplanung und Siedlungen konkurrieren. Wir haben Grenzen lange als etwas Negatives empfunden. Aber eigentlich sind sie Frühwarnsysteme. Antizipiere ich sie rechtzeitig, kann ich daraus eine Fortschrittsagenda ableiten. Eine niedrige Sterblichkeitsrate, Langlebigkeit und Gesundheitsversorgung sind grosse soziale Errungenschaften. Jetzt müssen wir die ökologischen Probleme integriert bekommen, damit wir all die Errungenschaften nicht wieder zurückdrehen.

Sind wir jetzt an einem Wendepunkt der Zeit – und hat die globale Führungs- und Wirtschaftselite das auch erkannt?
Ich habe das Gefühl, dass der Begriff «Zeitenwende» jetzt nur hochkommen konnte, weil es kurzfristig klare Ansagen gab: Vielleicht haben wir bald kein Gas mehr, also sind wir herausgefordert. Umweltveränderungen ohne Katastrophe hingegen sind ein schleichender Prozess. Eine Gaspipeline abzudrehen, ist eine viel sichtbarere Grenze als einfach noch ein bisschen mehr Wasserverschmutzung oder noch ein paar Investitionen mehr in fossile Energien. Jetzt mal mit einem Rohstoffmangel konfrontiert zu werden, kann aber auch eine Chance sein. Vielleicht wird in den Ministerien beim Thema Energie- und Ressourcensicherheit künftig mehr auf die realen Bestände geschaut und wo sie liegen, also welche geopolitischen, sozialen und ökologischen Herausforderungen ihre Nutzung mit sich bringt. Wir haben ja immer noch diesen Gedanken: Wenn es nur genug Geld gibt, sind auch andere Dinge automatisch da oder kompensierbar. Vielleicht ist es Teil dieser Zeitenwende, dass man an diesem Paradigma mal dreht.

Sie plädieren dafür, für die Wirtschaft neue Parameter einzuführen, statt nur Wachstum zu messen. Wie könnte das konkret aussehen?
Zuallererst müssen wir Fortschritt anders definieren als nur über das Bruttoinlandprodukt. Am besten sieht man das zum Beispiel bei einer Flutkatastrophe: Danach steigt das BIP, weil ganz viele Leute dafür bezahlt werden müssen und Material gekauft werden muss, um etwas wieder aufzubauen. Dabei ist es ja eigentlich kein Fortschritt, etwas zu reparieren, das kaputtgegangen ist. Zweitens müssen wir über soziale Verteilung sprechen. Auch da ist das BIP blind. Die Bedürfnisse der Ärmsten und der Natur müssen in einem Wirtschaftsindikator und bei Preisen eine Rolle spielen.

Dann wird ja alles noch teurer. Oder wäre Inflation, wie sie gerade zahlreiche Länder erleben, in dieser idealen Welt kein Problem mehr, weil diese ganzen wirtschaftlichen Parameter anders definiert sind?
Eine klare Sicht und die Balance von Angebot und Nachfrage durch Geldpolitik sind komplementär, aber nicht das Gleiche. Preise müssen die Wahrheit sagen. Dann können Märkte besser Risiken und Grenzen erkennen und Innovationen treiben. Die ökologischen Kosten sind grösstenteils nicht eingepreist. An der Kasse sieht das billig aus, ist es aber nicht. Den wahren Preis trägt am Ende die Gesellschaft. Das Autofahren ist so ein Beispiel: Die öffentliche Hand muss Luftverschmutzung, Gesundheitsfolgen, Strassenbaukosten ausgleichen. Das ist also eine hoch subventionierte Form der Fortbewegung – aber wir Konsumentinnen sehen nur den unmittelbaren Benzinpreis. Hätte etwas den tatsächlichen Preis, würde man wahrscheinlich andere Lösungen für sein Bedürfnis wählen.

Die Frage ist dann aber: Woher kommt das Geld, um das entsprechende Bedürfnis zu befriedigen?
Das ist keine klassische Geldentwertung, sondern eine «Greenflation», durch die in Zukunft ja auch viel Geld gespart wird. Und ganz wichtig ist die Frage, was denn das Bedürfnis ist. Wenn wir zum Beispiel nicht erst 15'000 bis 50'000 Euro in ein Auto versenken müssten, bevor wir mobil werden, dann könnten wir ziemlich viele Transportkilometer für diese Summe in Anspruch nehmen. Das ist der Unterschied zwischen einer Mobilitätswende, die das Bedürfnis nach sicherer, erschwinglicher und individueller Mobilität zur Ausgangsfrage nimmt und diverse Angebote vorantreibt, und einer E-Auto-Subventionierung, die im alten Pfad bleibt und den Treibstoff im Tank austauschen will. Preise sind immer politisch.

Was haben wir für einen Zeithorizont, um diese Transformation zu schaffen?
Aus der Ökologie heraus ist das stark definiert: zehn Jahre. Die haben wir, um die sogenannten Kipppunkte zu vermeiden. Treten die ein, heisst das nicht, dass der Ozean weg ist oder der Planet sofort unbewohnbar, aber die Veränderungsprozesse im Ökoystem sind dann irreversibel. Damit verlieren wir auch die Fähigkeit, so genau zu prognostizieren, was sich verändern wird.

Wie können wir es verhindern, uns in diese unsichere Zone zu manövrieren?
Am wichtigsten ist eine demokratische Gesellschaft. Und ich wünsche mir, dass diejenigen, die sehr viel haben, aufhören zu behaupten, man könne alles über den Preis regeln. Denn das bedeutet: Reiche können einfach weiter ihrem Lebensstil frönen, Arme müssen sich wahnsinnig schnell umstellen. Die Formel für nachhaltige Entwicklung ist hohe Lebensqualität bei geringstmöglichem ökologischem Fussabdruck. Besser, wir überlegen uns Konzepte zur Ressourcen-Gerechtigkeit. Wenn ich zum Beispiel ein bestimmtes CO2-Budget pro Kopf und Jahr hätte, mit dem jede Person machen kann, was sie will, wäre das mit Sicherheit aktuell gerechter. Das begrenzte Budget, das ich habe, wäre dann das CO2 für meinen Lebensstil. Dann haben alle einen Anreiz, mitzuziehen.

Das müsste Ihrer Ansicht nach bei allen Regierungen ganz oben auf die Agenda?
Viel geht ja darum, dass wir Probleme erst mal richtig und ehrlich benennen. Dann fangen wir an, sie zu lösen. Aber ich habe den Eindruck, wir schleichen da immer noch drum rum.

In einer Panel-Diskussion am St. Gallen Symposium sprachen Sie darüber, dass Energie aktuell eine umkämpfte Ressource im Krieg ist, aber eigentlich ein öffentliches Gut sein sollte. Dann wäre es auch kein Druckmittel.
Jeder braucht Energie. Deswegen hat das viel mit unserer innerstaatlichen Idee von einer öffentlichen Daseinsvorsorge zu tun – wie das Recht auf Wohnraum, auf eine Grundversorgung, Zugang zur Bildung. Das sollte im Rahmen einer «ethischen Kooperation» zwischen handelnden Ländern miteinander verknüpft sein.

Und wie kriegt man das hin, wenn ausgerechnet autokratische Staaten wie Russland oder Saudi-Arabien auf den Ölquellen sitzen?
Mit qualitätsorientierten Energiepartnerschaften zwischen denen, die auf den Ressourcen sitzen, und denen, die das Geld haben und damit natürlich auch die Entwicklung in den Ländern, die die Ressourcen haben, vorantreiben können. Russland würde in diesem Szenario das Geld für Öl und Gas nicht einfach den Oligarchen zuspielen, sondern in die Daseinsvorsorge der Bevölkerung investieren. Wenn das ein öffentliches Gut ist, wenn dieses Ethos der Kooperation besteht, dreht sich niemand gegenseitig den Gas- oder Geldhahn ab, weil klar ist: Die eine Seite braucht Energie, die andere Geld, um die Daseinsvorsorge der jeweiligen Gesellschaft zu sichern.

Das hätten wir also vor 20 Jahren machen müssen. Stattdessen müssen wir jetzt sagen: Wir nehmen Öl und Gas nicht mehr?
Wir dürfen es auch nicht mehr nehmen, wenn wir unseren Klimazielen gerecht werden wollen. Es wäre aber besser gewesen, eine qualitätsorientierte Energiepartnerschaft zu haben und zu merken, wenn diese kippt. Dass die russische Politik eben nicht in Richtung einer Annäherung an Europa geht, sondern sich ganz im Gegenteil darum dreht, Russland wieder als Grossmacht zu etablieren. Stichwort: Frühwarnsysteme. Stattdessen geht es jetzt darum, wer dem anderen schneller Ressourcen entzieht. Wenn irgendeine Chance aus dieser fürchterlichen Situation entsteht, dann die, dass wir nun wirklich einen Sprung nach vorne schaffen in den Dekarbonisierungs- und Kreislaufwirtschaftsstrategien. Das könnte künftig Konflikte verringern.

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