Lausanne, Palais de Beaulieu, gestern 13 Uhr: Hunderte von Kleinaktionären strömen durch die Zutrittskontrolle in das Kongress- und Pressezentrum. Ihre Erwartungen an Nestlé: extrem hoch!
«Wir erwarten von Nestlé schon ein paar Bhaltis», sagt Véronique Pichon (47) zu BLICK. Die langjährige Aktionärin hat ihren Sohn Yann (23) mitgebracht, der die Anteile seines Vaters vertritt. «Üblicherweise halten sie immer ein paar Überraschungen bereit», sagt dieser.
Der weltgrösste Lebensmittelkonzern feiert 2015 sein 150-jähriges Bestehen. Ein volles Haus an der 149. Generalversammlung ist garantiert. Laut einem Nestlé-Sprecher nehmen 3000 bis 4000 Aktionäre an der GV teil.
Nach Lausanne geschafft hat es auch Aktionärs-Legende Herman Struchen (86). BLICK sichtete den GV-Schreck am Vormittag am Bahnhof in Lausanne, als er den Bus zum Kongresszentrum verpasste.
Sicherheitskräfte wie bei einem Fussball-Match
Massives Sicherheitsdispositiv: Über 100 Sicherheitskräfte sind abgestellt. Sie kontrollieren Zutrittsbadges aussen und im Gebäude selbst. «Das ist nicht unüblich für einen internationalen Konzern wie Nestlé», beruhigt der Sprecher.
Nicht unüblich ist auch die Markenshow des Lebensmittelmultis: Verköstigt werden Aktionäre in einer Cailler- oder Mövenpick-Lounge, es gibt eine Dolce-Gusto- und Nespresso-Kaffeebar. Einen VIP-Bereich für besonders potente Aktionäre. Alles verteilt auf verschiedene Stockwerke.
«Geburtstags-GV ist nicht berauschend»
Immer wieder heisst es «Badge zeigen». Wie jedes Jahr gibt es Häppchen und Wein. Nichts Aussergewöhnliches. «Nestlé hat eine stabile Performance. Doch von der Höhe der Dividende bin ich enttäuscht», sagt Kleinaktionär Udo Zukowski (46) aus Münchenbuchsee BE.
IMAGE-ERROREnttäuscht sei er, wie sich Nestlé hier in Lausanne präsentiere: «Die Geburtstags-GV ist nicht berauschend. Ich hätte mehr als ein paar Müsterli und Gratis-Briefmarken erwartet», sagt Zukowski.
2853 Aktionäre füllen den Saal
Im Saal nebenan nehmen die ersten ihren Platz ein. Insgesamt füllen 2853 Aktionäre in diesem Jahr den Kongresssaal. Altersdurchschnitt: 60Plus. Im Publikum sitzt auch Brabecks Vorgänger Rainer Gut (83), der vom Präsidenten speziell begrüsst wird.
Es braucht viel Sitzleder, denn die Generalversammlung sollte erst spät Abends zu Ende sein. Vierzehn Redner haben sich in eine Liste eingetragen. Die einen fordern Nestlés Einsatz für eine globales Flaschenpfand, andere wie Philippe de Vargas kritisieren eine «Resourcenausbeutung» durch Nestlé Waters.
Die Konzernleitung um Präsident Peter Brabeck (71) und CEO Paul Bulcke (61) betritt um 14.20 Uhr das Podium, zehn Minuten später geht es pünktlich los.
IMAGE-ERROR«2015 hat Ihr Unternehmen wieder ein operatives und finanzielles Ergebnis vorgelegt, das zu den besten der Branche gehört», sagt Präsident Brabeck. «Trotz vielerorts schwierigen wirtschaftlichen und politischen Umfelds sowie ungeachtet deflationärer Tendenzen in Westeuropa.»
7 Milliarden Franken für die Aktionäre
Davon sollen die Nestlé-Aktionäre einen schönen Batzen abhaben: 7 Milliarden Franken an Dividenden (2.25 Franken pro Aktie) stellt er in seiner Eröffnungsrede in Aussicht.
Natürlich wandert davon auch ein schöner Teil in den Sack Brabecks. Seine 3,4 Millionen Nestlé-Aktien sind aktuell 245 Millionen Franken wert. Er kassiert insgesamt 7,65 Millionen Franken aus der Dividendenausschüttung.
Das Jubiläumsjahr ist für den Österreicher der Abschluss und Höhepunkt einer beispiellosen Manager-Karriere. Seit 1968 steht Brabeck im Sold des Lebensmittelriesen.
«Machen über 4 Milliarden Umsatz mit Online-Handel»
«Heute stehen wir an der Schwelle zur sogenannten vierten industriellen Revolution», sagt Brabeck. «Sie bringt Veränderungen mit sich, die sich in einem nie da gewesenen Tempo, Umfang und Ausmass vollziehen werden.»
Darum werde Nestlé in Gesundheitswissenschaften, Innovationen und digitale Technologien investieren, «um uns für die Zukunft zu wappnen», sagt Brabeck.
Laut CEO Paul Bulcke arbeitet Nestlé zudem «mit führenden Akteuren im Online-Handel wie Alibaba, Amazon, JD und Rocket Internet» zusammen. Bulcke: «Unsere Aktivitäten im Online-Handel erwirtschaften heute einen Umsatz über 4 Milliarden Franken – mit einem Wachstum von 20 Prozent und mehr», ruft Bulcke vom Podium herab.
«Brauchen Produkte, die Lebensqualität steigern»
Noch-Präsident Brabeck kommt auch auf die vor knapp sechs Jahren gegründete Nestlé Health Science zu sprechen. Mit schöner Regelmässigkeit kauft der Konzern Biotech-Firmen und Startups auf für den Ausbau dieser strategischen Geschäftseinheit. «Will Nestlé weiter wachsen, müssen wir Lebensmittel produzieren, die die Lebensqualität steigern», sagte Brabeck im November dem SonntagsBlick.
Mit dem Jubiläum endet eine Ära: In 365 Tagen an gleicher Stelle wird Brabeck den Aktionären «Adieu» sagen und vom Präsidium zurücktreten. Das steht bereits heute fest. Sein Nachfolger soll gegen Herbst bekannt werden.
Souverän und kämpferisch durch die GV
Durch die aktuelle GV führt Brabeck souverän und kämpferisch wie eh und je. Auch kommentiert er die politische Lage in der Schweiz. «Ich begrüsse die sinnvollen Entscheide des Bundesrats von Ende 2015 und den Beschluss, keine neuen Änderungen am Minder-Gesetz vorzunehmen», sagt Brabeck. Applaus von den Rängen.
«Die Schweizer Regelung für die Abstimmung über die Vergütung ist und bleibt die strengste weltweit», so der 71-jährige weiter.
Hinsichtlich der Steuerreform in der Schweiz befürworte er die «klare Entscheidung der Bevölkerung des Kantons Vaud», eine derartige Reform zu genehmigen. «Hoffentlich ist dies ein gutes Omen für die Reform auf nationaler Ebene», sagt Brabeck.
«Beziehungen zur EU ein grosser Gewinn»
Zudem hebt er die Beziehungen der Schweiz zur EU hervor: «Diese Beziehungen sind für die Schweiz ein grosser Gewinn.» Es gelte die entscheidenden Punkte der Bilateralen zu bewahren und gleichzeitig die Kernpunkte der Entscheidungen des Schweizer Volkes zu respektieren.
Den wichtigsten Kampf hat er letztes Jahr gewonnen. In drei Anläufen hat er den Krebs besiegt. «Jetzt ist alles abgeschlossen», sagte Brabeck ebenfalls im November dem Sonntagsblick.
Brabeck nutzt die heutige GV, um die Aktionäre auf seine Vision einzuschwören, Nestlé zu einem führenden Konzern bei Nutrition, Gesundheit und Wellness zu machen. «Teilen Sie unsere Begeisterung und unseren Stolz, Nestlé in die Zukunft zu führen», sagt er mit erhobener Stimme ins Mikrofon. Applaus.
Müsterli a gogo, aber keinen Sack
IMAGE-ERRORAuch Gabriela Rubeli mit Tochter Céline applaudierten. «Wir sind sehr zufrieden mit dem, was Nestlé in den letzten 150 Jahren erreicht hat», sagt Mutter Rubeli. Die Zuger Familie ist nach eigenen Angaben seit vielen Jahren in den Konzern investiert.
Bereits ist es fast 17 Uhr. Noch immer treten Redner mit Voten ans Pult. Noch immer ist noch kein einziger Beschluss gefasst worden. Es wird ein langer Tag. Dann ist es doch noch geschafft: Alle Abstimmungen der Traktanden-Liste gingen mit grosser Mehrheit zu Gunsten Nestlés aus.
Nach den Schlussworten Brabecks werden nochmals Häppchen und Wein serviert. Und viele «Müsterli» aus dem Nestlé-Markenimperium. Doch einen Sack zum Verstauen gibt es auch dieses Jahr nicht, wie einige Aktionäre murrend bemerken.