Klage gegen Tech-Riesen
Juristin (34) versetzt Amazon in Angst und Schrecken

Die Angstgegnerin von Amazon zieht wegen Kartellrechtsverletzungen vor Gericht. Im schlimmsten Fall droht die Aufspaltung.
Publiziert: 29.09.2023 um 18:16 Uhr
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Aktualisiert: 15.01.2024 um 09:35 Uhr
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Lina Khan ist die Angstgegnerin von Amazon.
Foto: keystone-sda.ch
Patrick Herger
Handelszeitung

Amazon gerät erneut ins Visier der US-Wettbewerbsbehörde. Die Federal Trade Commission (FTC) hat zusammen mit 17 Bundesstaaten eine Kartellklage gegen den Online-Riesen eingereicht. Der Vorwurf: Amazon missbrauche seine Monopolstellung im Online-Marktplatzgeschäft und benachteilige Kunden und Konkurrenten. Die Klage wurde vor einem Gericht in Seattle eingereicht, wie die FTC am Dienstag mitteilte, da Amazon dort seinen Hauptsitz hat.

Die Börsen reagierten negativ auf die Nachricht. Die Titel von Amazon verloren am Dienstag 4 Prozent, aber auch Apple und Google reagierten deutlich. Apple lag bei Börsenschluss 2,3 Prozent im Minus, Google 2 Prozent.

Warum die Titel unter Druck kommen

Um zu verstehen, warum die Technologie-Titel wegen der FTC-Klage derart unter Druck kamen, ist es hilfreich, sich zunächst mit dem Begriff «Enshittification» (frei übersetzt «Verschlechterung») zu beschäftigen.

Geprägt hat diesen Begriff der Technologie-Experte und Schriftsteller Cory Doctorow, um einen Prozess zu beschreiben, den viele Internetnutzerinnen und -nutzer aus eigener Anschauung kennen dürften: Die Nutzerfreundlichkeit digitaler Plattformen nimmt mit der Zeit ab, wobei sich verschiedene Phasen unterscheiden lassen:

  1. Anfangsphase: Eine Plattform lockt Nutzerinnen und Nutzer mit einem innovativen Angebot, das einen Mehrwert schafft. Facebook ermöglichte es beispielsweise, unkompliziert Fotos zu teilen, Amazon schuf einen Markt mit günstigen Angeboten.
  2. Wachstumsphase: Die Plattform profitiert von den Netzwerkeffekten, die entstehen, wenn mehr Nutzer und Nutzerinnen beitreten. Die Plattform wird attraktiver, gleichzeitig steigen für die User die Wechselkosten.
  3. Verschlechterungsphase: Die Plattform zieht Verkäufer an, die ihre Zielgruppe erreichen wollen, und die Plattform wird mehr und mehr zu einem Marktplatz für Daten und Waren. Die Nutzenden sehen in dieser Phase immer mehr Werbung, und die Reihenfolge der Suchresultate oder Timeline wird so verändert, dass die Plattform Vorteile, die Nutzerin jedoch Nachteile hat. Darüber hinaus nehmen Überwachung und Nachverfolgung des Nutzendenverhaltens zu. Die Plattform nutzt ihre Marktmacht aus, um die Nutzerinnen und Nutzer an sich zu binden und die Einnahmen zu steigern.

Lina Khan prägt die neue Haltung

Mittlerweile, so konstatiert Doctorow, seien alle grossen Technologieplattformen – darunter Amazon, Google und Facebook – schon lange in die Phase der Verschlechterung eingetreten. Dabei stellt sich die Frage, wie weit die US-Technologiesuperstars die «Enshittification» treiben können, bis es als Ausnutzen einer Monopolstellung gilt. Und hier ist es unter der Regierung von Präsident Joe Biden zu einer deutlichen Verschiebung in der Rechtsmeinung gekommen, von welcher sich die FTC leiten lässt.

Zu tun hat das vor allem mit einer jungen Juristin: Lina Khan. Die 34-Jährige wurde von der Regierung Biden als Chefin der FTC ins Amt geholt und ist so etwas wie die Angstgegnerin der Tech-Riesen. Weit über juristische Kreise hinaus bekannt, wurde sie durch einen Aufsatz, den sie 2017 noch als Rechtsstudentin geschrieben hatte: «Amazon’s Antitrust Paradox». Khan argumentiert darin, die bisher geltende Interpretation des US-Kartellrechts sei unzureichend, um die Wettbewerbsverzerrungen zu erfassen, welche durch die Dominanz und die Praktiken von Amazon und anderen Technologiekonzernen entstehen.

«Monopol» wird neu definiert

In den vier Jahrzehnten vor der Berufung Lina Khans an die Spitze der FTC hatten die Gerichte das Kartellrecht durch eine zunehmend monopolfreundliche Auslegung immer weiter aufgeweicht. Der Nachweis, dass schädigendes Monopolverhalten vorliegt, war kaum zu erbringen.

Artikel aus der «Handelszeitung»

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Denn, so wurde argumentiert, Wettbewerbsbedingungen könnten auch dann herrschen, wenn nur ein einziges Unternehmen in einem Markt aktiv sei. Grund seien potenzielle Konkurrenten, die in den Markt eintreten würden, wenn ein Monopolist zu hohe Preise verlange. Aufgrund der Angst vor dieser potenziellen Konkurrenz entferne sich der Preis selbst bei nur einem einzigen Anbieter nie weit vom Wettbewerbspreis.

Lina Khan argumentiert dagegen, dass es eine Neudefinition von Monopolmacht brauche. Unternehmen wie Amazon hätten eine so grosse Marktmacht, dass es ihnen möglich sei, den Wettbewerb zu verzerren, selbst wenn ihr Verhalten nicht von traditionellen diesbezüglichen Definitionen erfasst werde.

Amazon bestreitet Vorwürfe

Ein Beispiel dafür ist das «Begraben» von Suchresultaten – ein Vorwurf, den die FTC in ihrer Klage erhebt. Amazon ist ein Verkäufer von Waren, aber das Unternehmen stellt auch einen Marktplatz für andere Verkäufer zur Verfügung. Wenn Amazon nun feststellt, dass ein Verkäufer seine Waren günstiger als der Technologieriese selbst anbietet, kann Amazon diesen Verkäufer so weit unten in den Suchergebnissen platzieren, dass er praktisch unsichtbar wird. Das führt dazu, dass kein Verkäufer die Preise von Amazon unterbieten wird.

Das typische Ergebnis dieser «Enshittification»: Bereicherung des Plattformanbieters auf Kosten der Konkurrenz und der Kundschaft. Diese müssen nicht nur höhere Preise zahlen, sie erleiden darüber hinaus eine Nutzeneinbusse. Denn die Suchergebnisse verschlechtern sich aufgrund wettbewerbsverzerrender Algorithmen und auch wegen bezahlter Werbung, welche relevante Suchergebnisse weiter nach hinten verbannt.

Amazon bestreitet derweil sämtliche Vorwürfe der FTC. Diese seien «faktisch und rechtlich falsch». In einer Erklärung liess der Online-Riese verlauten, vielmehr hätten die Praktiken, welche die FTC beanstandet, dazu beigetragen, den Wettbewerb und die Innovation in der gesamten Einzelhandelsbranche zu fördern.

Wie geht es weiter?

Die FTC hat in ihrer Klageschrift keine konkreten Abhilfemassnahmen gefordert, wie zum Beispiel eine Zerschlagung Amazons. Ihr Hauptziel sei es, Amazon für seine mutmasslichen Kartellverstösse zur Rechenschaft zu ziehen. Die FTC und die Bundesstaaten verlangen deswegen vom angerufenen Gericht, Amazon zu verbieten, das rechtswidrige Verhalten fortzusetzen.

Allerdings enthält die Klageschrift einen Passus, wonach das Gericht «strukturelle Abhilfemassnahmen» anordnen solle, falls diese notwendig seien, um weitere Wettbewerbsverzerrungen zu verhindern. Und unter diesen Abhilfemassnahmen versteht man in der Regel solche, die das Unternehmen selbst verändern, wie zum Beispiel eine Aufspaltung.

Khan könnte scheitern

Bei alledem sollte man im Hinterkopf haben, dass es die Gerichte und die US-Rechtsprechung waren, welche der zunehmenden Monopolisierung in den USA Vorschub geleistet und Hilfestellung gegeben haben. Die lange gepflegte und deswegen bei vielen Richtern fest verankerte monopolfreundliche Rechtsmeinung wird nicht einfach wegen einer einzelnen Klage oder einer neuen FTC-Chefin verschwinden. Deswegen sind viele Rechtsexperten der Meinung, dass die Aussichten für die FTC in einem Prozess alles andere als rosig seien. Es ist also gut möglich, dass Lina Khan und die FTC mit ihrer Klage scheitern.

Aber die Technologiekonzerne haben es mit der «Enshittification» sehr weit getrieben. So weit, dass mittlerweile immer mehr Kongressmitglieder der beiden grossen US-Parteien dafür sind, die Marktmacht der Internetgiganten zu schwächen. So wurde Lina Khan zwar von Joe Biden als FTC-Chefin nominiert, für dieses Amt aber vom Senat mit parteiübergreifender Unterstützung bestätigt.

Aktuell sind es vor allem republikanische Politiker und Politikerinnen, die den Internetplattformen vorwerfen, dass sie konservative Inhalte zensieren oder unterdrücken. Als Lösung schlagen sie genau das vor, was im Hintergrund droht, falls die Klage der FTC gutgeheissen wird, nämlich eine Zerschlagung oder zumindest eine starke Regulierung der entsprechenden Konzerne.

Politischer Wind dreht sich

Insgesamt verhält es sich also so: In den letzten Jahrzehnten haben die US-Gerichte in kartellrechtlichen Verfahren sehr monopolfreundlich und nachsichtig entschieden. Aber das Pendel scheint nun in die andere Richtung auszuschlagen. Der politische Wille für gegen die Tech-Riesen gerichtete Regulierungen ist in den USA jedenfalls eindeutig auf dem Vormarsch. Dementsprechend steigt die Nervosität an den Märkten.

Trotzdem scheinen die rechtlichen und regulatorischen Risiken auch nach den jüngsten Kursverlusten in ihrem ganzen Umfang noch lange nicht eingepreist zu sein. Für Anlegende scheint es aus dieser Perspektive empfehlenswert, sich hinsichtlich eines Exposures gegenüber dem US-Technologie-Sektor defensiv zu verhalten.

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