Keine Alimente
Ein Dämon treibt sie in die Armut

Eine Mutter von zwei Kindern muss ihren alkoholkranken Mann verlassen. Doch der kann keinen Unterhalt zahlen. Und der Staat will nicht.
Publiziert: 23.02.2024 um 01:26 Uhr
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Aktualisiert: 23.02.2024 um 15:25 Uhr
Der Vater ist nicht leistungsfähig, die alleinerziehende Mutter kriegt keine Alimente. (Symbolbild)
Foto: Shutterstock
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Jasmine Helbling
Beobachter

Die Schritte verraten ihn, noch bevor er das Zimmer betritt. Vanja Rossi hat gelernt, auf Signale zu achten: Stampfen, Schnaufen, Seufzen. Wenn sie einen Fehler macht – ein schiefer Blick, ein falsches Wort –, reagiert er aggressiv. Er brüllt und tobt, schlägt mit den Fäusten gegen Türen, bringt die Kinder zum Weinen. «Weisst du, wieso ich dich nicht schlage?», fragt er einmal. Zu diesem Zeitpunkt fühlt sich Rossi komplett machtlos. Sie wartet, schweigt, erduldet. «Dann könntest du mich anzeigen», beantwortet er die eigene Frage.

Es wäre einfach, diese Geschichte schwarz-weiss zu zeichnen. Hier Gut, da Böse. Ein Opfer, ein Täter. Aber so will es die 25-Jährige nicht. Also malen wir grau – und ersetzen richtige Namen durch erfundene. Hier Vanja Rossi, da Adrian Kunz. «Mein Ex ist ein toller Mensch, aber er hat einen Dämon», sagt sie. Der Dämon heisst Alkohol.

Ein Dämon wird zum Dauergast

Rossi und Kunz lernen sich als Teenager kennen und ziehen früh zusammen. 2017 kommt die erste Tochter zur Welt. Adrian kann freundlich und charmant sein – es gibt keinen Stichtag, an dem das vorbei ist. Die Veränderung kommt schleichend. Noch ein Feierabendbier, wieder Ausgang mit Freunden. Zuerst klopft der Dämon gelegentlich an, dann wird er zum Dauergast.

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Die Sucht frisst Geld, bald landen Betreibungen im Briefkasten. Nüchtern kämpft Adrian mit Selbstzweifeln und Reue. Betrunken sucht er ein Ventil für seine Wut. Immer wieder muss Vanja herhalten – bis sie sich selbst hinterfragt. Hat sie ihn vielleicht provoziert? Erst Jahre später lernt sie, dass es einen Begriff dafür gibt: Gaslighting. Eine Person wird so lange manipuliert, bis sie den eigenen Gedanken und Wahrnehmungen nicht mehr traut.

Mit der Geburt der zweiten Tochter wird alles noch schlimmer. Vanja wünscht sich weg, aber wo soll sie hin? Ohne Geld, ohne Job, ohne Wohnung. Lange hat sie die Hoffnung, dass alles wieder gut wird – bis eines Abends die Blase platzt. Adrian tobt und schreit auf seine Mutter ein, die zu Besuch ist. «Als ich sie weinen sah, kroch der Ekel in mir hoch. Ich floh in ein anderes Zimmer und stillte das Baby. Er lachte hämisch und sagte: «Du traust dich eh nicht, Schluss zu machen!»

Aber genau das tut sie. Ende 2018 verlässt Vanja Rossi mit den Kindern die gemeinsame Wohnung und schaut nicht zurück.

Adrian zahlt keine Alimente

Was vor fünf Jahren als Notlösung diente, ist heute ihr Zuhause: eine kleine Blockwohnung in ihrer Heimatstadt. Hier horcht sie nicht auf Schritte und verriegelt keine Türen. In der Küche kocht ihr neuer Partner, im Kinderzimmer spielen die Mädchen. Über das Erlebte spricht Rossi ruhig und reflektiert. «Heute weiss ich, dass Adrian schwer krank ist und Hilfe braucht. Das war aber nicht immer so. Anfangs war ich unglaublich wütend.»

Denn Adrian Kunz zahlt keinen Unterhalt.

Wenn die Alimente für die Kinder nicht gezahlt werden, springt normalerweise die Gemeinde ein und gewährt eine Alimentenbevorschussung. Diese schützt Kinder vor Armut und entlastet Alleinerziehende in einer Notsituation. Das Geld wird später beim unterhaltspflichtigen Elternteil zurückgefordert. Eine Bevorschussung ist aber erst möglich, wenn es ein Gerichtsurteil oder einen Unterhaltsvertrag gibt.

Das alles war Rossi nicht bewusst. «Ich habe mich während der Schwangerschaft informiert, weil wir nicht verheiratet waren. Aber einen Unterhaltsvertrag hat niemand erwähnt.» Darin werden die wichtigsten Fragen für den Fall einer Trennung geklärt – Obhut, Besuchsrecht, Unterhalt. Dinge, die sich auch nachträglich regeln lassen. Das braucht aber Geduld und Zeit, die Vanja Rossi kaum findet.

Mankofall – ein Sonderfall

Nach der Trennung arbeitet sie 90 Prozent und steckt mitten in einer Ausbildung. Frühmorgens bringt sie die Mädchen zur Tagesmutter, abends bleibt gerade noch Zeit für einen Gutenachtkuss. Am Wochenende recherchiert sie Gesetze und klappert Ämter ab. «Es war ein Chaos. Ich wurde ständig zwischen Gemeinde, Kanton und Alimentenhilfe hin- und hergeschickt. Niemand schien den Durchblick zu haben.» Irgendwann klappt es dann doch: Im Januar 2020 setzen Vanja und Adrian mit der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) einen Unterhaltsvertrag auf.

Dabei folgt der nächste Dämpfer: «Der Vater wird von der öffentlichen Sozialhilfe unterstützt und ist derzeit nicht leistungsfähig», heisst es im Vertrag. Adrian Kunz ist tiefer in die Sucht gerutscht und hat seinen Job verloren. Man spricht von einem Mankofall: Wenn das Einkommen einer Person nicht für Unterhaltszahlungen ausreicht, belässt man ihr das Existenzminimum. Adrian wird also nicht verpflichtet, einen bestimmten Alimentenbetrag zu zahlen. Damit ist auch eine Alimentenbevorschussung ausgeschlossen. Immerhin: Wenn sich seine finanzielle Situation verbessert, muss er den Fehlbetrag nachzahlen – bis zu fünf Jahre rückwirkend.

Besserung ist aber nicht in Sicht. Adrians Dämon ist hartnäckig. Therapien und Klinikaufenthalte helfen erst, dann stürzt er wieder ab. Auch Vanja läuft am Limit. Sie will weniger arbeiten, kann es sich aber nicht leisten. Ihr Umfeld hilft mit – trotzdem fehlt es an allen Ecken und Enden.

Viele Betroffene landen in der Sozialhilfe

Als es nicht mehr anders geht, stellt sie Anträge bei der Caritas und klopft bei Organisationen an. «Ich konnte nichts für meine Situation – trotzdem musste ich mich brutal überwinden. Ich wollte nicht von anderen abhängig sein.» Nach und nach lernt sie Alleinerziehende kennen. Mit anderen Dämonen, mit denselben Problemen: zu wenig Zeit, zu wenig Geld. Die meisten von ihnen beziehen Sozialhilfe. Das hilft ihnen zwar über die Runden, ist aber mit Stress und Scham verbunden. «Man muss zig Formulare ausfüllen, Privates preisgeben und wird ständig kontrolliert», sagt Rossi. Sie habe Frauen getroffen, die daran zerbrochen sind. Und solche, die es gar nicht erst versucht haben.

Beim Schweizerischen Verband alleinerziehender Mütter und Väter (SVAMV) melden sich viele verzweifelte Eltern, die mit dem juristischen Hürdenlauf überfordert sind. «Sie arbeiten, betreuen ihre Kinder und verschulden sich im schlimmsten Fall auch noch», sagt SVAMV-Präsidentin Yvonne Feri. Die jetzige Regelung widerspreche dem Gebot der Rechtsgleichheit.

Das findet auch Mirjam Holdener, Rechtsberaterin bei der Zürcher Frauenzentrale: «Beide Elternteile sind gleichermassen für den Unterhalt verantwortlich, das Existenzminimum wird aber nur bei der unterhaltspflichtigen Person berücksichtigt.» Ebenfalls fraglich sei, weshalb die Nachforderungsfrist auf fünf Jahre begrenzt ist. «Ein Kind hat Unterstützung zugut, solange es in der Ausbildung ist.»

In den vergangenen Jahren forderten mehrere Vorstösse faire Lösungen. Als ehemalige Aargauer SP-Nationalrätin setzte sich Yvonne Feri für Familienergänzungsleistungen ein. «Solche gibt es in vier Kantonen. Sie unterstützen insbesondere Working-Poor-Familien in belastenden Übergangssituationen», sagt sie. Der Vorschlag kam grundsätzlich gut an, wurde nach Jahren der Prüfung aber abgesägt – die Kompetenz liege bei den Kantonen. Dasselbe in Grün bei bedarfsabhängigen Kinderzulagen. Neue Vorstösse gibt es derzeit nicht.

Ohne Unterstützung geht es nicht

«Wer kein Umfeld hat, der kommt nicht durch», bringt es Vanja Rossi auf den Punkt. Die St. Gallerin hat zum Glück ein Auffangnetz: ihre Eltern, Adrians Familie – einen neuen Partner. Dieser habe sein Leben komplett umgekrempelt. «Immer wieder bezahlt er meinen Töchtern Dinge und verzichtet auf vieles. Das macht mich glücklich – aber auch wütend. Mit einer Alimentenbevorschussung wäre das nicht nötig.» Nach fünf Jahren des Sparens möchte die 25-Jährige endlich wieder unabhängig sein. Den Kindern Wünsche erfüllen, nicht ständig Nein sagen. Auch mal etwas für sich tun. Tanzen gehen oder Violine spielen.

Die Mädchen haben wenig Bezug zu ihrem Vater. Nach der Trennung gab es einige Treffen mit einer Beiständin der Kesb. «Im Moment ist das nicht möglich», sagt Vanja. Adrian sei in der Entzugsklinik. Trotz allem hofft sie auf ein Wiedersehen. Auf einen stabilen Kontakt zwischen ihm und den Töchtern, auf Normalität und Alimente. Dann, wenn Adrian wieder belastbar und zuverlässig ist. Wenn der Dämon endlich verschwunden ist.

Hilfe für Alleinerziehende

  • Schweizerischer Verband alleinerziehender Mütter und Väter (SVAMV): kostenlose und unabhängige Beratungen und Coachings; svamv.ch
  • Caritas Schweiz: Berät Menschen in Notsituationen und bei Schulden; caritas.ch
  • Schweizerische Hilfe für Mutter und Kind (SHMK): Bietet Beratung und Direkthilfe für Frauen, Paare und Familien, die durch Schwangerschaft oder Geburt eines Kindes in Not geraten; shmk.ch
  • Dachverband Budgetberatung Schweiz: Beratung, Onlineberechnungen, Budgetbeispiele und Merkblätter; budgetberatung.ch
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