Es ist der grösste Wirtschaftskrimi der deutschen Nachkriegszeit: Die Finanzfirma Wirecard entpuppt sich als Luftnummer. Die Bilanz: gefälscht. Fast zwei Milliarden Euro existierten gar nie. Der Star der deutschen Finanzwelt liegt in Trümmern. Ein Drama. Ein Skandal. Ein Chaos.
Jahrelang hielt das Management eine Fassade aufrecht. Schauspieler wurden engagiert, Revisoren getäuscht. Bis die Wahrheit langsam an die Oberfläche kam. Eine zentrale Rolle spielte dabei eine indische Frau. Fast im Pensionsalter. Sie kann kaum lesen und schreiben – und hat trotzdem einen Milliardenkonzern zu Fall gebracht.
Sokhbir Kaur (59) heisst die Frau. Sie ist die Mutter von Pavandeep Singh Gill (37), der ein Jahr als Jurist für Wirecard in Singapur arbeitete. «Pav», wie er überall genannt wird, ist der Whistleblower, der das betrügerische Machwerk der Wirecard-Manager enttarnt hat. Er leitete die Information auf Druck seiner Mutter an die Medien weiter.
Hüterin des Wirecard-Schatzes
Die Mutter ist praktisch Analphabetin, wie die «Süddeutsche Zeitung» in einem grossen Porträt schreibt. Sie hat ein ausgeprägt inniges Verhältnis zu ihrem Sohn. Sie ist seine Vertraute, seine Freundin und Beschützerin. Pav wohnte selbst als hochbezahlter Jurist mit seinem Mami zusammen.
Sokhbir war aber vor allem die Hüterin des Wirecard-Schatzes. Sie hat noch nie in ihrem Leben einen USB-Stick benutzt, verwahrte aber einen ihres Sohnes. Dieser zog alles Brisante, was er während seiner Arbeitszeit bei Wirecard zu sehen bekam, auf das Gerät und deponierte es bei seiner Vertrauensperson. Bei der Mutter.
Pav Gill wollte die Angelegenheit zunächst intern regeln. Eine interne Informantin zeigte ihm gefälschte Rechnungen und Kontoauszüge. Sie wies darauf hin, dass Zahlen erfunden und Umsätze aufgeblasen waren. Das oberste Management sei involviert und wisse Bescheid.
One-Way-Ticket nach Indonesien
Der Jurist trug die Informationen in die Zentrale nach Deutschland. Eine Untersuchung wurde lanciert, externe Anwälte eingeschaltet. Die Ergebnisse waren haarsträubend. Sie legten ein grosses Betrugssystem offen. Folgen gab es keine. Ausser für Gill. Er wurde bedroht. Seine Mutter fürchtete um sein Leben. Gill ist ihr einziges Kind. Sie war eine alleinerziehende Mama aus dem armen Norden Indiens.
Schliesslich wurde der Hausjurist im September 2018 vor die Wahl gestellt. Entweder er kündigt selbst. Oder er wird herausgeschmissen. Pav Gill verliess Wirecard. Im Gepäck: Das brisante Material. Deponiert bei der Person, die ihm womöglich das Leben gerettet hat. Denn Wirecard wollte ihn kurz vorher noch nach Indonesien schicken. Mit einem One-Way-Ticket. Seine Mutter witterte ein Attentat und rat ihm von der Reise ab. Zwei weitere Personen taten es ihr gleich. Er blieb in Singapur.
Gills Mutter erlitt kurz darauf einen Herzinfarkt. Die Ärzte diagnostizierten bei der Untersuchung zu allem Übel auch noch einen Tumor. Es folgte eine schwere OP. Die Ärzte entfernten ihr einen Teil des rechten Lungenflügels.
Eine Woche später, Sokhbir Kaur lag immer noch auf der onkologischen Station, gehüllt in einen Bademantel, empfing sie Journalisten der «Süddeutschen Zeitung». Sie überreichte ihnen das Material, das den Milliarden-Konzern endgültig in die Luft jagte.
«Wirecard bringt mich noch um», sagte die Frau damals im Krankenhaus. Aber sie lebt auch heute noch. Der Milliardenkonzern dagegen ist Geschichte. Insolvent, aus dem DAX geflogen, ehemalige Manager werden weltweit per Interpol gesucht, und die deutsche Finanzaufsicht wird umgekrempelt. (ise)