David Shrier nennt sich selber Futurist – einer, der über die unternehmerischen Herausforderungen der Zukunft nachdenkt und proaktiv Lösungen sucht. In seinem Fokus stehen die rasanten Entwicklungen rund um künstliche Intelligenz. Sie wird unsere Arbeitswelt massiv verändern und in der Folge auch die Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt – in einer Art, die bis jetzt noch niemand abschätzen kann.
Sie arbeiten schon lange an künstlicher Intelligenz und haben darüber Bücher geschrieben, aber jetzt entwickelt sich alles explosionsartig. Wie beurteilen Sie die jüngste Entwicklung?
Es scheint, als hätte sich der Erfolg über Nacht gezeigt. Dabei ist er bereits seit dreissig oder sogar achtzig Jahren im Entstehen begriffen. Ich habe mein erstes Softwareprogramm in KI im Jahr 1991 geschrieben. Doch niemand interessierte sich dafür, weil die Technologie noch nicht ausgereift war. Ich bin froh, dass die Leute endlich darauf aufmerksam geworden sind. Es gibt aber auch eine Menge Schaumschlägerei.
Was meinen Sie damit?
Die aktuelle Entwicklung ist nicht nachhaltig. Im Moment werden generative KI-Unternehmen wie Open AI mit dem 300-Fachen ihres Umsatzes bewertet. Langfristige Umsatzmultiplikatoren für KI-Unternehmen liegen normalerweise beim 4,7-Fachen des Umsatzes. Aus der Beobachtung der technologischen Entwicklung über die Jahre habe ich gelernt, dass man unweigerlich zum Mittelwert zurückkehrt. Der Schaum verschwindet wieder und das wirklich Brauchbare bleibt.
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Das erinnert an die Dotcom-Blase von 1999 und 2000.
Genau, die aktuelle Situation erinnert an jene Blase. Irgendwann folgen nach der Aufregung der Absturz und ein Tiefpunkt der Verzweiflung. Darauf aber folgt eine Phase der Produktivität. Und das ist der Moment, wenn man sieht, was wirklich werthaltig ist. Im Hintergrund der Blase vollzieht sich ein sehr realer Wandel.
KI weckt auch Ängste, bis hin zur Sorge, sie könnte sich zu einer existenziellen Bedrohung auswachsen.
Wie Tausende andere Menschen, die sich mit KI beschäftigen, bin auch ich besorgt über die existenzielle Bedrohung der Menschheit, die von diesen Systemen ausgeht. Die künstliche Intelligenz wird tiefgreifendere Auswirkungen auf die Arbeit, die Arbeitskräfte und die Wirtschaft haben.
Welches Szenario schwebt Ihnen vor?
Je nachdem, wessen Modell man glaubt, könnten innerhalb von fünf bis sieben Jahren zwischen 30 und 80 Prozent der Arbeitsplätze aufgrund von KI umstrukturiert oder überflüssig gemacht werden. Ein Beispiel dafür lieferte jüngst der CEO von British Telecom: Er hat gegenüber der Presse angekündigt, dass er innerhalb von sieben Jahren 42 Prozent seiner Belegschaft aufgrund von KI abbauen wird. Das halte ich für glaubwürdig.
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Gab es in der Arbeitswelt bereits eine vergleichbare Situation?
Im Zuge der technologischen Umwälzungen der letzten Jahrhunderte wurden 80 Prozent der Arbeitskräfte umstrukturiert. Was hat das mit den Gesellschaften gemacht? Es kam zur Amerikanischen, Französischen und Russischen Revolution sowie dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg.
Was ist der gemeinsame Nenner?
Diese Entwicklungen haben eine hohe Korrelation mit der industriellen Revolution. Aufgekommen ist der weitverbreitete Einsatz von Verbrennungsmotoren, in der Folge die Telefonie, die moderne Medizin oder die Eisenbahn und schliesslich die Elektronik. Es gab also viele Vorteile für die Gesellschaft und letztlich einen Anstieg des weltweiten Wohlstands, aber auch viel Schmerz, der sich über eine Zeitspanne von 150 Jahren hinzog.
Und was sagen Sie zur bisher durch die Geschichte belegten Tatsache, dass verschwundene Jobs immer wieder durch neue in ganz neuen Gebieten kompensiert oder sogar überkompensiert wurden?
Was mit der KI geschieht, wird sich in einem Jahrzehnt vollziehen. Wir komprimieren also all diese Veränderungen von 150 Jahren auf eine sehr kurze Zeit. In 150 Jahren hatten wir die Zeit, eine neue Generation von Menschen auszubilden – durch die Schulbildung und durch das Erlernen neuer Fähigkeiten –, die so geeignete Arbeitskräfte für das Maschinenzeitalter wurden.
Der Mensch verändert sich aber nicht innerhalb von 10 Jahren?
Nein, es ist sehr schwierig, die Menschen so schnell umzuschulen. Deshalb haben wir eine existenzielle Bedrohung. Wir werden in naher Zukunft massive gesellschaftliche Umwälzungen erleben, viele Leute werden arbeitslos wegen KI. Und stellen Sie sich vor, wir hätten 20 Prozent Arbeitslosigkeit – das wäre ein massives gesellschaftliches Problem. Klar, es gibt noch andere Bedrohungen für die Existenz der Menschheit. Aber die Umstrukturierung der Arbeit kommt am schnellsten auf uns zu.
Wie beurteilen Sie das Risiko, dass die neuen KI-Sprachtools unseren Diskurs verändern, unsere Diskussionen, unsere Art, wie wir Informationen erhalten, und wie diese Tools zum Beispiel Wahlen verzerren können?
Die Auflösung des zivilen Diskurses und die Manipulation der Wählerschaft ist eine grosse und zutiefst beunruhigende Gefahr. Heute haben wir die Möglichkeit, sehr überzeugende Fälschungen zu erstellen. Bisher waren zielgerichtete Manipulationen grösstenteils textbasiert. Jetzt aber sind wir in der Lage, ein Bild eines Politikers zu erstellen, der etwas sagt, was er nicht gesagt hat. Und zusätzlich lässt sich die gefälschte Aussage in grossem Umfang und in Echtzeit verbreiten.
Sie zeichnen ein pessimistisches Bild. Gibt es Wege, die Gefahren zu bannen?
Es gibt auch Grund für Optimismus. Die Kombination aus Mensch und KI kann Dinge tun, die keiner von beiden alleine tun kann. Ich arbeite beispielsweise mit einem Kollegen an der Gründung eines Unternehmens, das zukünftige Ereignisse vorhersagen kann, insbesondere Preise. Der Hintergrund ist, dass wir herausgefunden haben, dass eine Zusammenarbeit aus Mensch und KI die Zukunft besser vorhersagen kann als ein Mensch oder eine KI für sich alleine.
Wir Menschen müssen also lernen, mit KI zusammenzuarbeiten?
Ja – und sie besser verstehen zum Zusammenarbeiten. Wer die Zusammenarbeit verstanden hat, kommt in dieser neuen Weltordnung viel besser zurecht als andere, die nur ein allgemeines Wissen über KI haben, aber nicht wissen, was sie damit anfangen sollen.
Was also braucht es, um die KI zu nutzen?
Die Fähigkeit, KI zu steuern durch möglichst treffende Eingaben, nennt man Prompt Engineering. Je besser man das beherrscht, desto treffsicherer die Reaktion der KI. Prompt Engineering wird in den nächsten zwei bis drei Jahren sehr nützlich sein. Aber in zehn Jahren wird auch das obsolet, weil die KI so viel besser sein wird, dass diese Fähigkeit gar nicht mehr nötig sein wird.
Es gilt also, die kurzfristige und die langfristige Entwicklung auseinanderzuhalten.
Genau. Das Problem der Befähigung wird aber bleiben; jemand, der an der Kasse in einem Fast-Food-Restaurant gearbeitet hat und jetzt wegen KI arbeitslos wird, kann nicht so rasch Roboter reparieren oder zum Prompt Engineer werden.
Wie kann eine Gesellschaft damit umgehen?
Wir brauchen eine Art soziales Sicherheitsnetz für all die Menschen, die durch die KI ihre Existenzgrundlage zu verlieren drohen. Leider wissen wir heute noch nicht, wie dieses soziale Sicherheitsnetz aussehen soll. Einige schlagen zum Beispiel ein universelles Grundeinkommen vor, während andere sagen, dass das nicht funktioniert.
Ihre Haltung dazu?
Daten und Forschung stützen keine der beiden Positionen. Wir müssen also besser verstehen, welche sozialen Sicherheitsnetze funktionieren. Das Argument gegen ein universelles Grundeinkommen lautet: Wenn man den Menschen nur genug zum Leben gibt, aber nicht auch einen Sinn, werden sie sehr depressiv und verfallen dem Drogenkonsum, der Sucht und anderen Problemen. Die Pro-Seite hingegen sagt, wir können die Leute nicht einfach alle obdachlos werden und verhungern lassen. Wir sollten uns um alle in der Gesellschaft kümmern. Die Antwort liegt – wie so oft – irgendwo dazwischen. Wir sollten den Menschen eine Form von Unterstützung oder Abfederung bieten, aber wir sollten ihnen auch helfen, in der neuen Welt einen Sinn zu finden. Wie das genau aussieht, das ist dringlicher Gegenstand der Forschung.
Wie steht es denn um diese Forschung?
Mit anderen zusammen führe ich eine Initiative mit 3000 Forschern aus verschiedenen führenden Unversitäten an. Nebst der Frage nach dem universellen Grundeinkommen erforschen wir auch, wie wir KI sicher machen können. Wie stellen wir beispielsweise sicher, dass die KI keine schlechten Dinge tut? Wie gross sind die potenziellen Auswirkungen auf die Beschäftigung und was passiert mit den Menschen, die entlassen werden?
Werfen wir auch einen Blick auf die Anbieter von KI. Das sind bisher sehr wenige sehr mächtige Unternehmen. Wie sieht es hier um die Gefahren für den Wettbewerb und die Kontrolle über die Daten aus?
Das ist das grosse Tech-Dilemma. Der Bereich ist so kapitalintensiv, dass man in diesem Bereich nur konkurrieren kann, wenn man so gross ist wie Google Alphabet, Microsoft oder Meta-Facebook. Dazu kommen noch Alibaba, Baidu und Tencent. Das Risiko einer sehr starken Konzentration besteht zweifellos.
Das scheint auch für Technologien zu gelten, die anfänglich nicht von diesen Konzernen stammen. Auch sie werden von Big Tech vereinnahmt.
Ein Beispiel ist Open AI, ein sehr erfolgreiches Unternehmen. Es wuchs innerhalb weniger Jahre von null auf einen Wert von 29 Milliarden Dollar. Es hat Chat GPT entwickelt, der bis vor ein paar Tagen die am schnellsten gewachsene Verbrauchertechnologie der Geschichte war. Und nun hat Microsoft eine grosse Investition in dieses Unternehmen vorgenommen und wird jetzt an allen Gewinnen teilhaben, die sich aus dem Wachstum von Chat GPT oder von Open AI ergeben.
Wie beurteilen Sie das?
Einerseits besteht die Gefahr, dass Big Tech weiterhin den Wettbewerb unterdrückt, andererseits besteht auch die Chance, dass wir dadurch kostengünstige Versorgungsleistungen erhalten. Viele werden es gut finden, dass sie von diesen Tech-Riesen Dienstleistungen gratis oder viel billiger erhalten, die sie sich früher nie hätten leisten können. Und schliesslich gibt es auch Entwicklungen, die gegen die Allmacht von Big Tech sprechen...
Welche?
Wir erleben eine Schwächung der Monopole durch Open-Source-Anwendungen. In einem internen Strategiepapier von Google kam ein Ingenieur zum Schluss, dass Open-Source-Anwendungen die Leistung von proprietären Modellen übertreffen. Ein Bespiel: Nachdem das KI-System von Facebook geleakt wurde, wurden damit Open-Source-Versionen entwickelt. Diese Versionen sind fast genauso leistungsfähig wie die besten Systeme der grossen Technologieunternehmen. Wir sehen hier eine sehr schweizerische Vorstellung von einer föderalen oder demokratischen KI, zu der jeder beiträgt, sie verbessert und von der alle profitieren.
Welche Entwicklung überwiegt: die monopolistische oder das Schweiz-Modell, wie Sie es nennen?
Ich würde behaupten, dass die KI-Modelle immer einfacher zugänglich werden. Sie konkurrieren miteinander und die Open-Source-Sachen werden besser. Das ist grossartig. Entscheidend bleibt aber der Zugang zu Daten, mit denen sie ihre KI betreiben. Ein Wettbewerbsvorteil heute, aber auch in fünf Jahren, hängt davon ab, welche einzigartigen Datenpipelines sie generieren und in welch grossem Umfang sie diese erzeugen können. Das ist am Ende wichtiger als das konkrete KI-Modell.
Daten als Dreh- und Angelpunkt. Bisher scheint es, dass sich die grossen Konzerne Daten und Leistungen aus dem Netz nehmen können und diese für sich vermarkten.
Die Sorge um die faire Nutzung, Vervielfältigung und Verbreitung von Informationen ist gross. Andererseits denke ich, dass wir eine ähnliche Entwicklung wie bei den Kryptowährungen und der Blockchain erleben werden. Zu Beginn halten die Tech-Innovatoren ihr Produkt für magisch und immun gegen die Gesetze der Schwerkraft. Dann holen die Regulierung und die Strafverfolgung sie ein. Ich erwarte, dass genau das bei KI-Modellen passieren wird.
Werfen wir einen Blick auf die ganze Welt. Daten zeigen, dass in den USA die Investitionen in KI zunehmen, während sie in Europa abnehmen. Verbaut sich der alte Kontinent eine Chance?
Neue Vorschriften wie die EU-Verordnung, bei der ich beratend mitgewirkt habe, können Unternehmen dazu veranlassen, eine Pause einzulegen, während sie die Auswirkungen dieser Verordnung erst untersuchen wollen. Sie wollen die Risiken für ihr Geschäft abschätzen und sicherstellen, dass sie die Vorschriften einhalten. Auf der anderen Seite schafft die neue Verordnung Klarheit. Investoren mögen keine Unsicherheit. Wenn man also für Sicherheit sorgt, kann man sogar mehr Investitionen fördern.
Das ist eine optimistische Auslegung des europäischen Rückstands.
Beim Tech-Rückstand Europas geht es um mehr als nur um KI. Hier sehen wir generell einen starken Rückgang der Tech-Investitionen. Insgesamt ist die Risikokapitalfinanzierung in Europa in einem Jahr um über 30 Milliarden Euro zurückgegangen. Das ist auch eine Folge von weniger Exits von Firmen, also von Platzierungen von Startups am Kapitalmarkt. Das führt dann zu weniger vorgelagerten Aktivitäten. Deshalb würde ich zögern, die Gesetzgebung direkt als Haupttreiber der Entwicklung zu nennen.
Was aber ist der Treiber der Schwäche in Europa?
Die künstliche Intelligenz ist nach wie vor stark auf einige wenige Exzellenzzentren – Cluster – konzentriert. In den USA zum Beispiel im Silicon Valley, in San Francisco, New York oder Bosten, wo überproportional die meisten Entwicklungen stattfinden. Weitere befinden sich im kanadischen Toronto, im Umfeld von London in Grossbritannien und in Peking oder Schanghai in China. In diesen Clustern werden die meisten Erfindungen gemacht. Europa leidet darunter, dass es über keinen derart starken Cluster verfügt.
Welche Rolle spielt die Schweiz hier?
In der Schweiz ist Zürich für die künstliche Intelligenz ein wichtiger Standort. Aber bei der kommerziellen Nutzung von KI spielt die Schweiz eine geringe Rolle. Das ist generell ein grosses Problem. Trotz hervorragender Forschung und Technologie gelingt hier die Kommerzialisierung nicht in demselben Tempo wie in anderen Innovations-Clustern. Es fehlt an einer unternehmerischen Kultur.
Wie erklären Sie sich das?
Das mag zum Teil daran liegen, dass in der Schweiz ein Kulturwandel stattfinden muss. Scheitert in der Schweiz ein Unternehmen, sprechen noch die Enkelkinder darüber. Wenn in den USA etwas schiefgeht, macht man weiter und versucht es erneut. Man ist stolz auf diese Haltung. Immerhin: Die UBS und die ETH versuchen, dieses Denken mit einer neuen Initiative für Unternehmertum anzugehen.
Wie beurteilen Sie abschliessend die Entwicklung: Überwiegen Chancen oder Gefahren?
Auch die neuen Technologien sind alle von Menschenhand geschaffen. Sie passieren uns nicht einfach. Wir haben es in der Hand, was wir mit damit machen. Wir sollten sie für Dinge einsetzen, die gut für die Menschheit sind und zum Fortschritt beitragen, anstatt nur mehr Reichtum für eine Handvoll Leute anzuhäufen. Ich glaube an die Macht des Kapitalismus, aber ich glaube auch an die Macht der Humanität. Und mit dieser doppelten Sichtweise im Hinterkopf halte ich es für unglaublich wichtig, dass wir einen informierten Dialog darüber führen, wie wir diese Technologien für das Allgemeinwohl nutzen können.