Der 13. April 2022 muss ein Freudentag gewesen sein für Marc Jean-Richard-dit-Bressel (60). Der Zürcher Staatsanwalt hatte nicht nur den wichtigsten Wirtschaftsstrafprozess des Jahrzehnts gegen Ex-Raiffeisen-CEO Pierin Vincenz (67) gewonnen. Nein, quasi als Kirsche auf der Torte konnte er von sich sagen, Staranwalt Lorenz Erni (73) besiegt zu haben. Dieser gilt als «Schrecken der Anklage».
Die Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten für Vincenz war wichtig für Jean-Richard. Der Nachfahre des Begründers der Schweizer Uhrenindustrie gilt unter Fachkollegen zwar als guter Jurist und sehr guter Theoretiker. Doch seine Erfolgsquote vor Gericht ist eher mittelmässig – vor allem bei spektakulären und entsprechend öffentlichkeitswirksamen Fällen.
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Jean-Richard scheiterte gleich in zwei solchen Fällen: 2003 versuchte er, dem milliardenschweren Investor Martin Ebner (78) Insiderhandel nachzuweisen. Dieser hatte 1998 nach einem Treffen mit der Pirelli-Führung Aktienpakete des Unternehmens verkauft und dadurch einen Gewinn von 35’666 Franken erzielt. Vor Gericht lief der Ankläger auf – und wie: Für den Richter hätte Jean-Richard den Fall nicht einmal zur Anklage bringen dürfen. Ebner wurde freigesprochen und erhielt eine Prozessentschädigung von 30’000 Franken.
Jean-Richards Gegner damals: Lorenz Erni. Genauso wie zwei Jahre später, als der Zürcher Staatsanwalt gegen den Banker und heutigen SVP-Nationalrat Thomas Matter (57) prozessierte, ebenfalls wegen Insiderhandel. Nachdem er in einem Interview mit der «Bilanz» zu offen über den Tatverdacht geplaudert hatte, wurde er auf Ernis Beschwerde hin wegen Befangenheit vom Fall abgezogen.
Ein singender Staatsanwalt
Auch wenn der Schweizer Insider-Strafartikel als zahnloser Tiger gilt und es kaum Verurteilungen gibt: Eine weitere Niederlage konnte sich Jean-Richard, mittlerweile zum Leiter einer Abteilung für Wirtschaftsstrafrecht der Staatsanwaltschaft Zürich aufgestiegen, nicht leisten. Entsprechend grosses Geschütz fuhr er im Vincenz-Prozess auf – in der Anklage, bei den Befragungen, im Plädoyer.
Was durchaus zu Jean-Richards Persönlichkeit passt, der als ehrgeizig gilt und in jedem Fall vielseitig ist: Neben der juristischen Karriere machte er eine Ausbildung zum Börsenhändler. Und 2010 trat er gar mit einem Pilgerlied zum Schweizer Vorentscheid des Eurovision Song Contest an.
Kritik gab es schon vor dem Prozess
Vielleicht ist das alles ein bisschen viel? Mit der Urteilsaufhebung im Fall Vincenz fällt der Nimbus des Erni-Bezwingers in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Dabei gab es schon vor dem Prozess Kritik an der Anklageschrift: «Die gesamte Anklage ist überraschend wackelig», sagte der renommierte Strafrechtler Marcel Niggli (63) damals dem «Tages-Anzeiger». Er sei «konsterniert», wie wenig die Staatsanwaltschaft vorbringe, gemessen an der jahrelangen Ermittlung.
Jean-Richard wird sich seine Version schon zurechtgelegt haben: Der Auftrag des Staatsanwalts, schrieb er einmal, sei «nicht, einen Schuldspruch zu erstreiten», sondern die «Wahrheit ans Licht zu bringen». Die Wahrheit ist: Weil Jean-Richard-dit-Bressel laut Obergericht «schwerwiegende Verfahrensfehler» gemacht hat, steht der grösste Wirtschaftsstrafprozess wieder auf Feld 1.