Hat sich da jemand im Haus geirrt? «Wer wett scho booking.com Appartements?», hat ein Sprayer auf die Fassade gesprüht. Kritik daran, dass mitten im Wohngebiet knapper Raum für zahlungskräftige Touristen freigehalten wird. Der Ort für das Graffiti ist jedoch komplett falsch gewählt. Zum Mehrfamilienhaus von Bernhard Nievergelt an der Josefstrasse 194 in Zürich passt nämlich nur eine Bezeichnung: Mietertraum.
«Sie können die Schuhe anbehalten, ich habe meine auch schon an», sagt der 60-Jährige. Im vierten Stock bittet er in die Wohnung: sechs Zimmer, Altbau, 140 Quadratmeter, zwei Badezimmer, Parkettböden, drei Balkone, alles sanft renoviert. Drei solcher Wohnungen gibt es im Haus.
Nievergelt lebt mit seiner Familie zu fünft in der obersten, die anderen sind an eine Familie und eine Vierer-WG vermietet. Für 2500 bis 2800 Franken im Monat, inklusive Nebenkosten. Und das in einem der zentralsten und schönsten Quartiere Zürichs, direkt neben einem Park, an einer Strasse ohne Verkehr. Ebenfalls zum Haus gehören vier 3-Zimmer-Wohnungen im selben Stil. Dort zahlen Mieterinnen zwischen 1250 und 1400 Franken.
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Unter 3000 Franken keine Chance
Was das für Zürich heisst, zeigt ein Blick in die gängigen Wohnungsportale. Einen einzigen Treffer ergibt Anfang Januar die Anfrage nach einer 5-Zimmer-Wohnung unter 3000 Franken. Weitere Vorschläge «basierend auf deiner Suche» sind eine ältere, hundskommune 4,5-Zimmer-Wohnung für 3490 Franken, eine nette 3,5-Zimmer-Wohnung für 3225 Franken und ein 4,5-Zimmer-«Appartement» für 5180 Franken.
Steigende Mieten und schwindender Wohnraum gehören heute zu den grössten Sorgen der Menschen in der Schweiz. Im Zentrum der Diskussion steht dabei meist die Rolle institutioneller Vermieter wie Pensionskassen oder Immobilienfirmen. Ausserhalb der Stadt Zürich und der Genferseeregion gehört der Grossteil der vermieteten Wohnungen aber immer noch Privatpersonen (siehe Grafik). Wie sie vermieten, ob sozial oder renditegetrieben, ob nachhaltig oder auf schnellen Profit ausgerichtet, hat deshalb eine enorme Bedeutung. Denn nirgendwo sonst in Europa leben so viele Menschen zur Miete.
«Hausbesitzer aus Gelegenheit»
Institutionelle Anleger und Firmen sind quasi durch ihr Geschäftsmodell verpflichtet, möglichst hohe Renditen zu erzielen. Private dagegen können selbst entscheiden, welche Ziele sie mit ihren Immobilien verfolgen. Ob das Mieterland Schweiz auch in Zukunft funktioniert, hängt zu einem grossen Teil von ihnen ab.
«Ich bin Hausbesitzer aus Gelegenheit geworden», sagt Bernhard Nievergelt. Schon während des Studiums wohnten er und seine Lebensgefährtin im Haus an der Josefstrasse, damals in einer WG. Besitzerin war eine betagte Frau ohne Erben. Als sie Ende der 1990er-Jahre starb, vermachte sie das Haus zwei Stiftungen für Kinder mit Behinderung, die damit «im Sinne der Mieterinnen und Mieter» verfahren sollten.
Die Stiftungen suchten eine passende Käuferschaft und waren bereit, das Haus fast zum Schätzwert zu verkaufen: 1,75 Millionen Franken für damals zehn alte 3-Zimmer-Wohnungen in einer Gegend, die erst gerade begann, sich von einem etwas heruntergekommenen und von der Drogenszene gezeichneten Arbeiterquartier zu einem Trend- und Hipsterviertel zu entwickeln.
«Wir erkannten die Chance, ein Wohnprojekt auf die Beine zu stellen – am liebsten gemeinsam mit allen Hausbewohnern», sagt Nievergelt, der mit der Zürcher Jugendbewegung der Achtzigerjahre gross geworden ist. Heute arbeitet er als Soziologe an der Universität Zürich. Als sich herausstellte, dass sich von den anderen Mietern niemand am Kauf beteiligen konnte oder wollte, machte Nievergelt mithilfe einer vorgezogenen Erbschaft selber ein Kaufangebot (nötig waren 450'000 Franken Eigenkapital) – und erhielt den Zuschlag. Heute, gut 20 Jahre später, würde er für das Haus mindestens fünf Millionen bekommen, allein wegen der gestiegenenBodenpreise.
Mieterinnen diskutieren mit
Nievergelt und seine Partnerin aber hatten nie vor, mit ihrer Liegenschaft möglichst viel Geld zu verdienen. Statt mit weiteren Eigentümerinnen setzten sie ihr Wohnprojekt gemeinsam mit den anderen Bewohnerinnen um. Anfänglich liessen sie die bestehenden Mietverträge weiterlaufen. Als es zu Wechseln kam, entwarfen sie «eine Hausgemeinschaft in Anführungszeichen», wie Nievergelt es nennt. Die 3-Zimmer-Wohnungen in den oberen Stockwerken wurden zu 6-Zimmer-Wohnungen zusammengelegt. In diese zogen Mieterinnen und Mieter, die in der Zwischenzeit Kinder bekommen hatten.
Schritt für Schritt wurden die Küchen modernisiert, Balkone angebaut, der Hof wurde vergrössert und in einen Grill- und Sitzplatz umgestaltet. Die Miete legt Nievergelt so fest, dass Geld für weitere Renovationen und Ausbauten vorhanden ist, über die auch die Mieterinnen und Mieter mitdiskutieren.
In den Nachbarhäusern regiert die Rendite
An der Josefstrasse 194 hätte es auch anders kommen können. Das zeigt sich in den Nachbarhäusern. Gleich nebenan hat die Besitzerin alle Wohnungen komplett saniert und vermietet drei Zimmer für mehr als 3000 Franken. Noch eine Hausnummer weiter wurden aus den alten Arbeiterwohnungen Appartements für Touristinnen und Geschäftsleute. Gegen sie ist das Graffiti auf der Fassade von Nievergelts Haus gerichtet. Wer in Städten wie Zürich eine Liegenschaft besitzt, konnte sich in den letzten Jahren eine goldene Nase verdienen.
Bernhard Nievergelt hat es nicht getan, sieht sich aber nicht als Wohltäter. «Als Hausbesitzer ist man enorm privilegiert. Das Haus hat einen hohen Wert, und wir können mitten in Zürich selbstbestimmt wohnen. Das gibt mir und meiner Familie eine grosse Sicherheit und Freiheit.»
Was aber ist überhaupt eine faire Miete? «Bei dieser Frage kommt mir immer ein Hotelier aus Schottland in den Sinn», sagt Beat Winterflood. Wenn die Gäste mehr als mal ein Shampoo mitlaufen lassen, ist der Zimmerpreis zu hoch, habe der gesagt. «Bei der Miete ist es ähnlich. Das Verhalten der Mieter zeigt mir, ob sie den Zins als fair empfinden.»
Wenn Beat Winterflood aus seinem Wohnzimmerfenster schaut, blickt er direkt auf sein altes Leben. Im Bauernhaus mit den grünen Läden und der rotbraunen Scheune wohnte er früher mit seiner Familie. Hier, «im Klösterli» in Beringen, einem schmucken Dorf bei Schaffhausen, hatten er und seine Frau in den 2000er-Jahren ihren Traum vom Eigenheim verwirklicht. «Damals konnte sich das eine normale Familie noch leisten», sagt der Maschinenbauingenieur. Vorher hatten sie in einer Genossenschaftssiedlung im Zürcher Oberland gewohnt.
Doch die Ehe hielt nicht. Das Haus hätten sie mit Gewinn wieder verkaufen können. «Aber ich wollte nicht weg, ich fühlte mich hier zu Hause», sagt der 64-Jährige.
Heute wohnt Winterflood im ehemaligen Speicher. Daraus hat er ein kleines Hausmit drei Zimmern bauen lassen. Im aufwendig renovierten Bauernhaus mit seinen 6,5 Zimmern auf drei Stockwerken lebt eine Familie mit vier Kindern. Die Miete beträgt 2600 Franken im Monat.
In seinem früheren Büro im Erdgeschoss des Hauses hat Winterflood ein möbliertes Studio mit separatem Eingang, Küche und Bad eingerichtet, für das er 800 Franken im Monat verlangt, inklusive Nebenkosten und Parkplatz. Dazu kommt eine Doppelgarage, wo zwei Oldtimer eingestellt sind, für monatlich 200 Franken.
Der fairere Hauseigentümerverband
«Am Anfang hatte ich wenig Ahnung, wie viel ich verlangen soll», sagt Winterflood. Er besuchte darum eine Schulung bei Casafair, dem Verband «für umweltbewusste und faire Wohneigentümer*innen». Mit seinen rund 15’000 Mitgliedern ist er 20-mal kleiner als der viel bekanntere Hauseigentümerverband HEV. «Mir gefiel, dass Casafair Lösungen sucht, die für Mieter und Vermieter gut sind», sagt Winterflood. Heute ist er selbst im Vorstand der Sektion Ostschweiz und dort für das Kurswesen zuständig.
Casafair macht sich stark für die kostendeckende Miete. Anders als der Name vermuten lässt – und anders als bei der Kostenmiete, wie sie Wohnbaugenossenschaften berechnen –, deckt sie nicht nur die anfallenden Kosten. Die Vermieterinnen und Vermieter sollen auf das investierte Eigenkapital auch eine «angemessene» Rendite erhalten. Als «angemessen» betrachtet der Verband maximal ein halbes Prozent über dem Referenzzins.
Mieterinnen und Mieter zahlen klar zu viel
Beim jetzigen Stand bedeutet das eine Rendite von 2,25 Prozent im Jahr. Erlaubt wären 4,25 Prozent – nämlich maximal 2 Prozent über dem Referenzzinssatz, solange dieser unter 2 Prozent liegt, wie das Bundesgericht in einem Fall entschieden hat. Doch kontrolliert wird das nicht, und die Berechnung einer Rendite ist auch nicht ganz einfach. Das Resultat: 2021 haben Mieterinnen und Mieter gemäss einer Studie – die der Mieterverband in Auftrag gegeben hat – im Durchschnitt pro Monat 370 Franken mehr für ihre Wohnungen bezahlt, als die Vermieter hätten verlangen dürfen (siehe Grafik).
Winterflood orientiert sich an der kostendeckenden Miete, rechnet aber nicht nach Punkt und Komma. «Für mich ist das Haus eine Investition, die bescheidene Rendite sehe ich eher als Entschädigung für meinen Aufwand.» Damit gehört er unter den Vermietern zu den Ausnahmen.
Niemand bremst die Abzocker
Wie eine Erhebung des Bundes zeigt, verlangen nämlich private Vermieter im Schnitt nicht weniger für die gleiche Wohnung als institutionelle Anleger und Immobilienfirmen – im Gegenteil, sogar leicht mehr (siehe Grafik). Manche private Vermieter verzichten bewusst auf eine höhere Rendite, andere verlangen offenbar deutlich mehr als zulässig – im Bewusstsein, dass der Markt sie schluckt und keine Instanz sie daran hindert.
Für Beat Winterflood spielt es – wie bei Bernhard Nievergelt in Zürich – eine wichtige Rolle, dass er mit seinen Mieterinnen Tür an Tür lebt. Die Verbindung sei nicht nur geschäftlich. Er sieht für diese Wohnform des «partnerschaftlichen Vermietens», wie er es nennt, viel Potenzial in der Schweiz. Viele ältere Leute lebten allein in Häusern, die längst zu gross für sie sind, oft auch zu aufwendig. «Wenn man daraus ein Zwei- oder Drei-Parteien-Haus macht, schafft das neue Möglichkeiten für Wohnungssuchende und Eigentümer.» Mehr Wohnraum entsteht so oft in noch nicht sehr dicht besiedelten, häufig auch überalterten Quartieren. Kinder können ein Haus neu beleben, die Vermieter erhalten im Optimalfall langjährige Hausmitbewohner, die regelmässige Einnahmen bringen.
Bedingung sei, dass sich auch die Mieter wie Eigentümer verhielten und nicht wie Hotelgäste, sagt Winterflood. «Ich erwarte, dass sie das Haus ein Stück weit wie ihr eigenes wertschätzen und pflegen. Dann schaffen faire Mieten für mich als Vermieter einen Mehrwert.»
Ein unerwartetes Happy End
Wie es Mietenden ergehen kann, zeigt das Beispiel von Diana Schnüriger – doch bei ihr ging die Sache gut aus. Im Herbst 2023 erhielt sie einen Brief, den sie gefürchtet hatte, seit sie drei Jahren zuvor in die Wohnung eingezogen war: Verkauf der Liegenschaft, lautete die Überschrift.
Diana Schnüriger wohnt in einem Mehrfamilienhaus mit vier 4-Zimmer-Wohnungen im Stadtzentrum von Zug. Schon etwas älter, aber in gutem Zustand, schwarz-weiss karierter Küchenboden, in den Zimmern Parkett. Bis zum Bahnhof sind es fünf Minuten zu Fuss. Bisher zahlte sie weniger als 2000 Franken im Monat, inklusive Nebenkosten und Parkplatz. «In Zug muss man von einem Schnäppchen reden», sagt die 54-jährige Kauffrau. Sie ist in der Stadt aufgewachsen. Immer habe sie sich zum Mittelstand gezählt. «In Zug fühle ich mich heute aber kaum mehr so.»
Schnüriger konnte ihr Glück darum fast nicht fassen, als sie den Brief zu Ende las. Das Haus werde an eine Wohnbaugenossenschaft verkauft, stand da, sie als Mieterin werde Genossenschafterin. «Wir alle im Haus konnten es kaum glauben. Das ist der Jackpot!»
Baugenossenschaften galten lange als Wohnmodell für Menschen mit tiefem Einkommen. Heute sind sie für immer mehr Mieterinnen und Mieter die einzige Möglichkeit, weiter in Städten oder an anderen attraktiven Orten zu leben. Im schweizweiten Schnitt sind sie 10Prozent günstiger als andere Wohnungen, in Zug, Zürich oder Luzern beträgt der Unterschied häufig 30 oder gar 50Prozent. Viele Genossenschaften führen gar keine Wartelisten mehr, so sehr übersteigt die Nachfrage das Angebot.
Der Boden wird unbezahlbar
Geld und der Wille, mehr Wohnungen zu bauen, wären bei den meisten Genossenschaften vorhanden. Was fehlt, ist bezahlbares Bauland. «Bei einem Bieterverfahren können wir in der Regel nicht mithalten», sagt Esther Keiser, Geschäftsführerin der Genossenschaft für gemeinnützigen Wohnungsbau Gewoba, die neue Besitzerin der Guthirtstrasse 12 in Zug. Private oder institutionelle Anleger holten hohe Anschaffungskosten durch hohe Mieten wieder herein. «Für den gemeinnützigen Wohnungsbau kann das aber kein Geschäftsmodell sein.»
Genossenschaften sind darauf angewiesen, dass Private ihr Land nicht zum höchstmöglichen Preis verkaufen. Wie das bei den bisherigen Besitzern von Diana Schnürigers Wohnung an der Zuger Guthirtstrasse der Fall war. Es sind vier ehemalige Geschäftspartner, die anonym bleiben möchten, alle gehen auf die 90 zu. Ihr Sprecher, Anwalt Rainer Hager, freut sich hörbar, als er am Telefon von Diana Schnürigers Reaktion auf den Verkauf erfährt. Sein Vater gehörte bis zu seinem Tod ebenfalls zu den Eigentümern.
In zehn Jahren 140 Prozent höhere Mieten
Die vier Freunde hatten das Haus in den 1990er-Jahren günstig erworben. Es sei für sie eine sichere Anlage gewesen, die eine regelmässige Rendite einbrachte, sagt Hager. «Renoviert haben sie nur punktuell, dafür waren die Mieten günstig.» Mittelfristig aber werde eine Sanierung notwendig, doch das wollten sich die älteren Semester nicht mehr antun. Sie beschlossen, das Haus zu verkaufen – aber so, dass die Mieterinnen und Mieter zu den gleichen Konditionen im Haus bleiben können. «Als Käuferin kam darum fast nur eine Genossenschaft in Frage», sagt Hager. In der Finanzhochburg Zug sind die Baulandpreise in den letzten zehn Jahren um 90 Prozent gestiegen. Die Immobilienpreise um über 140 Prozent, fast 3 Prozent allein in den letzten drei Monaten 2023.
Wohnen ist in Zug derart teuer geworden, dass die Stimmbevölkerung die Politik zum Handeln gezwungen hat. Bis 2040 müssen mindestens 20 Prozent aller Wohnungen in der Stadt sogenannt preisgünstig vermietet werden, also nach dem Modell der Kostenmiete. In Gebieten, wo künftig verdichtet gebaut werden darf, sogar 40 Prozent. Eine knappe Mehrheit hat im Sommer 2023 eine Initiative der SP mit diesen Forderungen angenommen.
Nicht leicht umzusetzen
Wie schwierig es allerdings ist, solche Forderungen umzusetzen, zeigt sich in der Stadt Zürich. Dort hat die Stimmbevölkerung 2011 festgelegt, dass bis 2050 der Anteil gemeinnütziger Wohnungen von heute knapp einem Viertel auf ein Drittel steigen muss. Trotz grosser Bemühungen und Investitionen der Stadt konnte der Anteil bisher aber lediglich gehalten werden.
In Zug werden private Immobilienbesitzer und Wohnbaugenossenschaften künftig stärker zusammenarbeiten müssen. «Wir haben mit der Gewoba nur gute Erfahrungen gemacht», sagt Rainer Hager, der früher für die FDP im Zuger Stadtparlament war. Auch er als Liberaler findet, dass es mehr günstigen Wohnraum braucht. «Gemeinsam mit Genossenschaften können Private dazu beitragen.» Diana Schnürigers Zuhause ist jetzt für immer der Spekulation entzogen.