Auf einen Blick
Montagmorgen. Adrian Berger (58) sitzt in seinem Spitalbüro. Er erledigt Papierkram, bereitet sich auf ein Radiointerview vor, entwirft den Sonntagsgottesdienst, den er im Vortragssaal des Kantonsspitals Schaffhausen gestalten wird.
Was an diesem Tag auf ihn zukommen wird, weiss er noch nicht. Vielleicht wird er dringend in die Notaufnahme gerufen. Oder er wird auf der Intensivstation erwartet. Vielleicht wird er an diesem Tag noch an einem Sterbebett sitzen. Wer weiss. Der Tag ist noch lang für den reformierten Spitalseelsorger.
Sicher ist: Berger wird die Patienten und Patientinnen im Spital besuchen, ohne Vorwissen über ihre Krankheit. Er klopft an deren Tür, stellt sich vor. Ob sich ein Gespräch ergibt, hängt vom Wunsch der Patientinnen und Patienten ab. Auf dem Weg zu den Bettenstationen trifft er Pflegefachfrauen, Ärzte, Physiotherapeutinnen und Reinigungspersonal. Viele kennen ihn bereits, sie tauschen sich kurz aus, sprechen auch über Persönliches und Privates. «Das Personal ist enormem Druck ausgesetzt», sagt Adrian Berger. Deshalb widmet er sich ihm besonders. Genau zuhören, nachfragen, Anteil nehmen – das reicht meist schon aus, um ein wenig Freundlichkeit und Wärme in den Alltag zu bringen.
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7 Tage, 24 Stunden erreichbar
7 Tage die Woche, 24 Stunden am Tag sind Berger und sein katholischer Berufskollege erreichbar. Klingelt mitten in der Nacht sein Handy, liegt meistens ein Patient oder eine Patientin im Sterben. Dann eilt er von zu Hause ins Spital. Sein Telefon hat er immer dabei, auch bei privaten Anlässen. Nur bei Konzerten schaltet er es aus. «Diese Verbindlichkeit ist wichtig für das Personal», sagt er. Für diesen Bereitschaftsdienst wird er nicht extra entschädigt, der gehört zum Beruf. Adrian Berger arbeitet im Auftrag der Evangelisch-reformierten Kirche Schaffhausen. Sie bezahlt seinen Lohn. Er bietet seine Dienste auf Wunsch aber allen Patienten und Patientinnen gratis an, unabhängig von deren Religionszugehörigkeit oder Konfession.
Manchmal kommt es vor, dass er verwechselt wird. Mit seiner Grösse von 1,85 Metern und dem selbstbewussten Auftreten wird er ab und zu als «Herr Doktor» angesprochen – oder sogar als Spitaldirektor. Letztens sei er mit dem Direktor essen gewesen und habe ihm von den gelegentlichen Verwechslungen erzählt. Sie hätten beide laut darüber gelacht. Ein CEO habe ganz andere Aufgaben und keine Zeit, Patientinnen und Patienten zu besuchen. Zudem sei der Lohn wohl nicht ganz derselbe. Aber so genau wisse er das nicht. Er müsse den Direktor einmal in einer ruhigen Minute danach fragen.
Zwanzig Jahre lang Spitalpfarrer
Adrian Berger arbeitet seit fast zwanzig Jahren als reformierter Spitalpfarrer und seit sieben Jahren als Gemeindepfarrer. Kein alltäglicher Mann in einem nicht alltäglichen Job, in dem es jeden Tag um Leben und Tod, Schmerz, Angst und Hoffnung geht. Er geht auf Menschen zu, tröstet sie und fängt sie auf. Gleichzeitig wahrt er eine professionelle Distanz, damit ihn das Schicksal anderer Menschen selbst nicht zu sehr belastet.
Menschen interessieren Adrian Berger per se. Er scheint beseelt davon zu sein, sie zu begleiten, zu unterstützen und ihnen beizustehen. Hier ein aufmunterndes Wort für eine Pflegefachfrau, da ein kurzes Gespräch mit einem jungen Arzt, der ihm von seinen Berufsplänen erzählt. Hat sein Gegenüber einen kirchlichen Bezug und kommt darauf zu sprechen, redet er mit ihm über Gott. Einen Auftrag seiner Kirche hat er nicht, den christlichen Glauben zu vermitteln, ausser im Gottesdienst.
Manchmal hört er stundenlang zu
Der Bauernsohn studierte an der Universität Zürich erst Philosophie, Kunstgeschichte, Germanistik und parallel Theologie, bevor er sich dann komplett für die Theologie entschied. Wer will, kann mit ihm über so gut wie alles diskutieren: Politik, Landwirtschaft, Literatur, bildende Kunst, klassische Musik, gesellschaftliche Fragen, das Leben im Allgemeinen oder Beziehungen. Manchmal gibt es lebhafte Diskussionen, manchmal hört er einfach nur zu – oft stundenlang. Dann etwa, wenn ein Mensch das Bedürfnis hat, sein bisheriges Leben noch einmal Revue passieren zu lassen und Bilanz zu ziehen. Adrian Berger hört aufmerksam zu, wirft manchmal Fragen ein, macht vielleicht ein Angebot für eine Deutung. Er urteilt nicht, richtet nicht. Dies sei Chefsache, meint Berger und lächelt.
«Ich bewundere, was Menschen alles ertragen und aushalten», sagt er. Er sei oft betroffen davon, wie viel Schweres und Unabänderliches manchen Menschen zugemutet würde, doch wie stark und geduldig sie dieses Schicksal annehmen. Oft ist er emotional berührt. Wie von dem jungen Mann, der sehr früh auf die schiefe Bahn geriet. Nun ist er unheilbar krank. Als er von seinen lieblosen Eltern erzählte, wo er sich doch so sehr nach Liebe, Geborgenheit und Anerkennung sehnte, hätten beide Tränen in den Augen gehabt.
Menschen in ihrem tiefsten Schmerz zu erleben, das muss Berger aushalten. Dafür erhalte er eine Verbindung zu Menschen, die ihm vorher völlig fremd waren. Dies sei ein kostbares Geschenk. «Nichts verbindet Menschen so sehr, wie wenn sie Trauer, Schmerz und Tränen miteinander teilen können.»
Vier Sterbende just am Weihnachtstag
Oft gibt es für ihn auch Grund zur Freude und Dankbarkeit. Wenn zum Beispiel Patientinnen und Patienten krank oder verunfallt ins Spital eintreten, Schmerzen haben, nach allen Regeln der Kunst behandelt werden und wieder schmerzfrei und gesund das Spital verlassen. Die Dankbarkeit zu spüren, tut auch ihm gut. Doch es gibt auch diese andere Seite. Vergangene Woche betreute er drei Sterbende. Rekord waren vier an einem Tag, just am 24. Dezember 2023.
Wie begegnet der Seelsorger Menschen, die am Sterben sind? Er sitzt dann auf einem Stuhl neben dem Spitalbett, hört das Atmen oder andere Geräusche und betrachtet die Person, deren Gesichtszüge. Manchmal sagt er halblaut vor sich hin, was der- oder diejenige ihm noch in den Tagen zuvor erzählte, was ihn besonders beeindruckt hat, woran er sich erinnert. Manchmal summt er ein Kirchenlied, sofern die Patientin, der Patient gläubig ist. «Man weiss, dass das Gehör bis zum letzten Atemzug funktioniert. Was genau bewusstlose oder sterbende Menschen wahrnehmen, bleibt ihr Geheimnis.»
Völlig unerwartet verstarb seine Ehefrau
Der Verlust eines geliebten Menschen: Adrian Berger weiss, was das heisst – nicht zuletzt aus eigener Erfahrung. Vor einiger Zeit ist seine Ehefrau völlig unerwartet gestorben. «Eine überaus harte Erfahrung, wenn einem die liebste Person durch den Tod entrissen wird.» Der Tod sei grausam, er mache auch ihn sprachlos und fassungslos, der Schmerz sei unermesslich, die Lücke bleibe für immer offen. Da gebe es nichts zu beschönigen oder zu verharmlosen. Wie geht er selbst damit um? Er klage Gott sein Leid und sein Elend, seine Wut und seine Trauer. «Man darf sehr wohl das Unerträgliche aus sich herausschreien, das Unverständnis darüber in Gottes Ohr schreien.»
Nach einem langen Spitaltag ist Berger «rechtschaffen müde», wie er es nennt. Er reflektiert den Tag. Bei einem Spaziergang mit seinem Hund denkt er über die Begegnungen nach, was ihm gut gelungen ist, was er das nächste Mal anders machen würde. «Ich habe mein Tun wie alle anderen vor Gott zu verantworten», sagt er. Woher er die Kraft für seinen Alltag nimmt? Nicht überraschend, trägt ihn sein tiefer Glaube. «Ich bete jeden Tag, bitte den Schöpfer um Kraft und Hoffnung, schliesse die Patientinnen, Patienten und Mitarbeitenden in mein Fürbittegebet ein.» Er könne nur das weitergeben, was er selbst bekomme, den Trost, mit dem er selbst getröstet werde, die Hoffnung, die ihn erfülle. «Ich fühle mich durch die vielen Begegnungen und tiefen, persönlichen Gespräche reichlich beschenkt und habe eigentlich gar nicht den Eindruck, der Gebende zu sein», sagt Berger und wendet sich wieder seinem nächsten Gottesdienst zu.