Debatte um sinkende Reallöhne
Gewerkschaften wollen 4,5 Prozent mehr – Arbeitgeber sprechen von «Traumtänzerei»

Die Reallöhne in der Schweiz sind in den letzten Jahren deutlich gesunken. Der Bevölkerung bleibt Ende Monat weniger als im Jahr 2015. Travailsuisse fordert bis zu 4,5 Prozent mehr Lohn. Die Arbeitgeber halten dagegen.
Publiziert: 17.08.2023 um 19:42 Uhr
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Aktualisiert: 18.08.2023 um 15:03 Uhr
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In der Gastronomie sind die Lohnverhandlungen bereits durch: aus Sicht der Gewerkschaft mit enttäuschendem Ergebnis.
Foto: Pius Koller
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Martin SchmidtRedaktor Wirtschaft

Gegen eine Lohnerhöhung hat niemand etwas einzuwenden. Doch so manch bodenständiger Arbeitskraft im Land dürften die aktuellen Lohnforderungen der Gewerkschaften die Schamesröte ins Gesicht treiben.

3,5 bis 4,5 Prozent mehr fordert Thomas Bauer (42), Leiter Wirtschaftspolitik bei Travailsuisse am Donnerstag im Bogenschützensaal in der Nähe des Berner Bahnhofs. Schiessen die Gewerkschaften mit ihrer Forderung übers Ziel hinaus?

Ganz klar ja, findet Simon Wey (47), Chefökonom des Schweizerischen Arbeitgeberverbands, kurz SAV. Er nennt es «Traumtänzerei». 

Beide Seiten greifen bei ihrer Argumentation tief in die Trickkiste: In der Analyse des SAV heisst es, dass die Reallöhne «in den vergangenen Jahren spürbar gestiegen sind». Die Statistik beginnt jedoch im Jahr 2000 und gerade in den ersten 15 Jahren gab es viele gute Lohn-Jahre.

Seither hat der Wind für die Arbeiterinnen und Arbeiter jedoch gedreht: Sie verdienen heute real sogar weniger als im Jahr 2015. Und der Trend hält an: «Nach unseren Berechnungen werden die Reallöhne in diesem Jahr zum dritten Mal in Folge sinken», sagt Bauer. Ein historischer Moment, wie er betont: «Das hat es in der Nachkriegszeit noch nie gegeben.» 

SAV-Chefökonom hält dagegen

Doch der Grossteil der Einbussen ist auf die letzten zwei Jahre zurückzuführen. «Und die Pandemie und der Kriegsausbruch waren auch für die Firmen nicht vorhersehbar», hält SAV-Chefökonom Wey dagegen. Was dabei häufig vergessen werde: «Die Firmen haben unter der schwierigen wirtschaftlichen Situation mit Lieferengpässen, gestiegenen Energiepreisen und dem Fachkräftemangel genauso gelitten», führt er aus. 

Im aktuellen Jahr läuft es für viele Angestellte auf eine Nullrechnung hinaus. Rechnet man dann die deutlich gestiegenen Krankenkassenprämien und Mieten dazu, resultiere bei tiefen und mittleren Einkommen ein deutliches Reallohn-Minus, so Bauer. 

Mit bis zu 4,5 Prozent sollen die Reallohnverluste des letzten und des aktuellen Jahres ausgeglichen werden, inklusive einer Lohnerhöhung. In Branchen ohne Lohnverlust fallen die gewerkschaftlichen Forderungen etwas tiefer aus.

Gewinne wieder deutlich gestiegen

Das Geld dafür sei vorhanden, betont Johann Tscherrig (60), Leiter Interessens- und Vertragspolitik Syna. «Die Auftragslage bei vielen Firmen ist gut, im Gewerbe sogar sehr gut. Die Gewinne sind wieder deutlich gestiegen. Nun ist es an der Zeit, dass diese fair verteilt werden.» Die Unternehmensgewinne haben sich von der Pandemie erholt und liegen im Vergleich mit den Lohnsummen auf einem höheren Niveau als 2019. 

Beim Arbeitgeberverband hält man dagegen: «Die Firmen müssen nach den schwierigen Jahren erst wieder ein gewisses finanzielles Polster aufbauen, damit sie für die Zukunft gerüstet sind», so Wey. Der Anteil der Firmengewinne am Bruttoinlandprodukt hat gemäss SAV seit den 1990er-Jahren kontinuierlich abgenommen. Der Verband verweist auch auf die eingetrübten Prognosen für die Weltwirtschaft. 

Schwierige Prognosen

Die Unsicherheiten bleiben: Im nächsten Jahr rechnet die SNB nach wie vor mit einer Teuerung von 2,2 Prozent, die UBS hingegen mit 1,7 Prozent und die Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich mit 1,5 Prozent. Je nach Inflationsrate könnten das nächste Jahr die Reallöhne also steigen oder erneut sinken. Die KOF kommt in ihrer letzten Lohnumfrage bei den Unternehmen auf eine durchschnittliche Lohnerhöhung von 2 Prozent. 

«4,5 Prozent wird es sicherlich nicht geben. Wo es die Margen zulassen, werden die Firmen alles daran setzen, erneute Reallohnverluste zu vermeiden. In allen Branchen dürfte das aber kaum möglich sein», so Wey. Der Lohnherbst geht in die heisse Phase.

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