Seit seiner Ausbildung arbeitete Lukas Cajoos (33) als Leiharbeiter im Garten- und Strassenbau. Dann kam die Pandemie – und die Temporärbranche brach zusammen. «Da wurde es richtig übel», sagt Cajoos. «Ich verdingte mich als Tagelöhner, um dem Sozialamt zu entkommen.» Doch im Frühjahr 2021 wendete sich das Blatt: Cajoos konnte auf Zeit bei der Kanalreinigungsfirma Mökah AG in Henggart ZH anheuern.
Immer mehr Firmen suchten Leiharbeiter. Die Temporärbranche nahm wieder Fahrt auf: Im April legte sie um 11 Prozent zu, im Mai um über 21 Prozent.
Ein Ende ist bis heute nicht in Sicht: «Die Firmen rekrutieren immer noch wie verrückt», sagt der CEO eines Temporärbüros. Marius Osterfeld (36), Ökonom des Verbands Swissstaffing, formuliert es so: «Die Branche ist ein Spiegel des Arbeitsmarkts. Wir sehen als Erste, wie es den Unternehmen geht.»
Kurve schiesst steil nach oben
Es geht ihnen prächtig: «Unsere Auftragsbücher sind gut gefüllt», sagt Christian Fuchs (44), Bereichsleiter bei der Mökah AG. So gut, dass Lukas Cajoos im Juni von der Firma eine Festanstellung erhielt – die erste seines Lebens. «Ich bin die Existenzängste endlich los», sagt Cajoos. Für ihn steht fest: «Wir haben die Pandemie überwunden!»
Seine Geschichte zeigt, was sich in der Schweiz ereignet: ein Wirtschaftswunder. 2020 brach das Bruttoinlandprodukt um 2,6 Prozent ein – seit dem Frühjahr schiesst die Kurve steil nach oben. Für 2021 rechnet die ETH-Konjunkturforschungsstelle (KOF) mit einem Wachstum von satten 4 Prozent.
«Wir sind mitten im Aufschwung», sagt KOF-Direktor Jan-Egbert Sturm (52). Natürlich gebe es Bereiche wie den Tourismus, die immer noch zu kämpfen hätten. Und eine gewisse Verzögerung sei wegen der Delta-Variante nicht ganz auszuschliessen. Doch die Gesamtschau zeige: «Die Schweiz ist auf den Wachstumspfad zurückgekehrt. Es dürfte keinen langfristigen Verlust der Gesamtwertschöpfung wegen der Pandemie geben.»
«Es war totenstill in der Langstrasse»
UBS-Chefökonom Daniel Kalt (52) teilt den Optimismus. Im Hinblick auf die Wirtschaftsleistung sei klar: «Wir haben die Pandemie überstanden.» Treiber des Booms sei die Nachfrage, sagt Kalt. «Dank der Kurzarbeit blieben die Einkommen stabil, aber die Schweizer mussten zwangsweise auf den Konsum verzichten. Das holen sie jetzt nach.» Bei manchen könne man gar von Rachekonsum sprechen: «Wer auf die Ferien verzichten musste, peppt jetzt erst recht den eigenen Garten auf.»
Es sind viele Gärten: Die KOF rechnet mit einer Zunahme des Konsums um 3 Prozent in diesem Jahr, sogar um 6,2 Prozent im nächsten. Ausschlaggebend dafür sind Lockerungen und Impfungen. Sie sorgen dafür, dass die Menschen wieder rausgehen – in die Zürcher Langstrasse zum Beispiel: «Das Leben ist zurückgekehrt», sagt Michèle Zeller-Kramer (45), Inhaberin des Schuhladens Peter & Vreni. Als die Pandemie ausbrach, weinte sie: «Wir waren machtlos. Das sind wir Schweizer uns nicht gewohnt.» Die zweite Welle traf ihr Geschäft noch härter: «Es war totenstill in der Langstrasse. Im Winter machten wir überhaupt keinen Umsatz mehr.» Dann begann der Frühling – und mit ihm die Zeit der Öffnungen. Die Kunden seien in Scharen gekommen, sagt Zeller-Kramer. «Sie haben keine Angst mehr. Und sie haben viel nachzuholen.» Das Geschäft laufe wieder so gut wie vor der Pandemie. «Wir haben überlebt.»
Für die Detailhändler sei die Pandemie tatsächlich ein Kampf ums Überleben gewesen, sagt Severin Pflüger (43) vom Handelsverband.swiss. «Die Umsätze im stationären Handel sind 2020 um bis zu 80 Prozent eingebrochen.» Doch nun gehe es wieder steil aufwärts – sogar im Textilbereich, der am stärksten gelitten hat. Pflüger: «Seit dem Frühjahr sind im Detailhandel keine Angestellten mehr in Kurzarbeit.»
Wachstum bei Warenexporten von 11,8 Prozent
Der Schweizer Aufschwung ist nur möglich, weil die globale Konjunktur massiv anzieht. «Trotz der Pandemie brummt die Weltwirtschaft», sagt ETH-Professor Sturm. Vor allem die USA und Asien boomen – angetrieben von riesigen Konjunkturpaketen vieler Regierungen. «In Europa geht es etwas weniger schnell», sagt Sturm. «Aber gerade die deutsche Industrie ist schon wieder in voller Fahrt. Sie zieht auch die hiesige Industrie mit.»
Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: 2020 brachen die Schweizer Warenexporte um 2,8 Prozent ein – dieses Jahr schiessen sie durchs Dach. Die KOF prognostiziert ein Wachstum von 11,8 Prozent.
«Viele unserer Firmen bestätigen diese V-Kurve», sagt Stefan Brupbacher (53), Direktor des Branchenverbands Swissmem. Entscheidend sei das neuerliche Konsumentenvertrauen: «Es ermuntert die Kunden unserer Firmen zu Investitionen.» Die ausländische Nachfrage ist enorm – besonders in den Bereichen Pharma, Chemie, Maschinen, Elektronik und Medizinaltechnik. «Die Produktion hält wegen Lieferengpässen kaum noch Schritt», sagt Brupbacher.
Aufschwung ist kein Selbstläufer
In der Tat: René Thoma (52) muss mittlerweile Aufträge ablehnen. «Wir haben die Kapazitätsgrenze erreicht», sagt der Geschäftsführer der Firma Rewag Feinmechanik AG in Waldkirch SG. Das KMU fertigt Präzisionsbauteile für diverse Industrien. Zwar brachen in der Pandemie die Aufträge aus dem klassischen Maschinenbau weg – dafür kam die Firma mit der Fertigung von Komponenten für Beatmungsgeräte und Schutzmasken kaum noch nach.
Seit einem halben Jahr rollt auch der Maschinenbau wieder an. Thoma investiert weiter in neue Maschinen – und in Personal: Auch seine Firma stellt in diesen Tagen einen Temporärarbeiter fest ein.
Swissmem-Direktor Brupbacher warnt jedoch, der Aufschwung sei kein Selbstläufer: «Wir stehen im internationalen Wettbewerb. Die Politik muss dafür sorgen, dass die Schweiz offen bleibt und möglichst viel vom globalen Boom ins Land holen kann.»
Nur geringe Lohnerhöhungen
Forderungen an die Entscheidungsträger hat auch Gian-Luca Lardi (51), Präsident des Schweizerischen Baumeisterverbands (SBV). Er rechnet für 2021 zwar mit einer leichten Erholung der Umsätze in der Bauwirtschaft um 1,5 Prozent. «Aber Bund, Kantone und Gemeinden müssen trotz Corona ihre Investitionen fortsetzen.»
Vor allem die steigenden Rohstoffpreise machen Lardi Sorgen: Sie stehen einem stärkeren Aufschwung der Baubranche im Weg, treiben aber auch die Konsumentenpreise nach oben, die gemäss KOF in diesem Jahr um 0,4 Prozent, 2022 um 0,5 Prozent steigen werden – Raten, die weit über dem Mittelwert der letzten zehn Jahre liegen. Gehen also bald auch die Löhne rauf? Ökonom Sturm winkt ab. «Die Firmen erhielten zwar grosszügige staatliche Unterstützung, aber ihre Margen waren trotzdem klein. Viele haben Verluste gemacht.» Deshalb würden sie wohl zurückhaltend mit Lohnerhöhungen sein. Die KOF erwartet für 2021 einen geringen Anstieg der Reallöhne um 0,2 Prozent.
Schuhladen-Chefin Zeller-Kramer hat dafür kein Verständnis. Sie will die Löhne ihrer Angestellten erhöhen: «Wir machen endlich wieder Umsatz. Davon müssen wir etwas weitergeben, sonst würgen wir den ganzen Aufschwung gleich wieder ab!»
Solche Sorgen mag sich Lukas Cajoos jetzt nicht machen. Er erlebt gerade sein ganz persönliches Wirtschaftswunder.