Am 11. November 2003 schrieb die britische Tageszeitung «The Times» einen Artikel mit dem Titel «Frauen an Bord: Hilfe oder Hindernis?». Die Zeitung nahm hundert Unternehmen unter die Lupe und beobachtete, dass auf die Anstellung einer weiblichen Führungskraft fünf Monate mit schlechter Leistung folgten. Die Schlussfolgerung: Frauen sind weniger geeignet als Männer, Unternehmen zu führen.
Dieses Urteil machte die zwei englischen Forschenden Alex Haslam und Michelle Ryan stutzig. Sie begannen, zu recherchieren, und untersuchten die hundert im Artikel erwähnten Unternehmen genauer. Dabei spielte die Performance der Monate vor Stellenantritt der weiblichen CEOs eine grosse Rolle.
Die Recherche zeigte ein klares Ergebnis. «Es war nicht so, dass Frauen die Ursache für einen Rückgang des Aktienkurses waren. Es war vielmehr so, dass bei Unternehmen mit dem konsistenten Muster einer schlechten Leistung die Wahrscheinlichkeit, dass sie Frauen in Führungspositionen beriefen, gestiegen war», erzählt Ryan in einem Podcast.
Ein weit verbreitetes Phänomen
Die beiden Forschenden publizierten ihre Studie zwei Jahre nach dem «Times»-Artikel. Der Inhalt des beobachteten Phänomens: «Glass Cliff» – die gläserne Klippe. Sie zeigt auf, dass Frauen vermehrt an die Spitze von Unternehmen gesetzt werden, bei denen es kriselt. Entsprechend schwierig ist es, die Firma wieder auf Vordermann zu bringen. Das Risiko, zu scheitern, besteht. Und das Risiko, gar beruflich abzustürzen, ist gross.
In der Literatur ist im Zusammenhang mit der Glass Cliff ein Beispiel prominent, jenes von Theresa May: Sie war von 2016 bis 2019 Premierministerin des Vereinigten Königreichs und hatte die bereits von vornherein beinahe unmögliche Aufgabe, den Brexit zu verhandeln. In der Folge scheiterte sie und musste als Parteichefin zurücktreten.
Doch nicht nur im Ausland finden sich Beispiele für die gläserne Klippe. Ein Schweizer Beispiel ist etwa die ehemalige CFO der Swissair, Jacqualyn Fouse. Sie war nicht lange im Amt, stand aber mitten im Geschehen des Groundings der Swissair (siehe Box).
Das Grounding der Swissair passierte im Jahr 2001 und stellt einen bitteren Abschnitt in der Schweizer Wirtschaftsgeschichte dar. Mittendrin im Geschehen: Jacqualyn Fouse, CFO von Swissair.
Sechs Monate bevor es zum endgültigen Ende der Schweizer Fluggesellschaft kam, übernahm Nestlé-Chef Mario Corti die Konzernführung und brachte die Texanerin Jacqualyn Fouse mit. Als Finanzchefin hatte sie die Aufgabe, die Swissair vor dem Absturz zu bewahren und durch den 2,9 Milliarden-Verlust zu navigieren.
Das war bereits eine Mammutaufgabe – das endgültige Frimenaus stiessen jedoch die Terroranschläge vom 9. September in den USA an. Sie brachten den globalen Flugverkehr zum Erliegen. Es dauerte nicht lange und das Geld ging aus. Die Swissair war Geschichte – und damit auch die Führungsposition von Fouse, die die Firma scheinbar nicht aus der Krise herausbrachte.
Zu Fouse's Glück beendete ihr Sturz von der gläsernen Swissair-Klippe ihre Karriere nicht. Sie kehrte in die USA zurück, arbeitete für die Nestlé-Tochter Alcon und ist heute CEO des US-Biotechunternehmens Agios.
Das Grounding der Swissair passierte im Jahr 2001 und stellt einen bitteren Abschnitt in der Schweizer Wirtschaftsgeschichte dar. Mittendrin im Geschehen: Jacqualyn Fouse, CFO von Swissair.
Sechs Monate bevor es zum endgültigen Ende der Schweizer Fluggesellschaft kam, übernahm Nestlé-Chef Mario Corti die Konzernführung und brachte die Texanerin Jacqualyn Fouse mit. Als Finanzchefin hatte sie die Aufgabe, die Swissair vor dem Absturz zu bewahren und durch den 2,9 Milliarden-Verlust zu navigieren.
Das war bereits eine Mammutaufgabe – das endgültige Frimenaus stiessen jedoch die Terroranschläge vom 9. September in den USA an. Sie brachten den globalen Flugverkehr zum Erliegen. Es dauerte nicht lange und das Geld ging aus. Die Swissair war Geschichte – und damit auch die Führungsposition von Fouse, die die Firma scheinbar nicht aus der Krise herausbrachte.
Zu Fouse's Glück beendete ihr Sturz von der gläsernen Swissair-Klippe ihre Karriere nicht. Sie kehrte in die USA zurück, arbeitete für die Nestlé-Tochter Alcon und ist heute CEO des US-Biotechunternehmens Agios.
Doch warum gibt es das Phänomen Glass Cliff? Weshalb werden Frauen primär in Krisenzeiten als Chefinnen gewählt? Eine Antwort gibt Petra Schmid, Professorin für Psychologie an der ETH Zürich: «In Krisenzeiten werden oft mehr Risiken eingegangen. Man probiert etwas Neues aus, wie eben zum Beispiel eine Frau an der Spitze.» Das könne zum Teil auch ein strategischer Schachzug des Unternehmens sein. Man wolle Stakeholdern signalisieren, dass etwas getan wird, um durch die Krise zu kommen.
Doch nicht nur das: «Es gibt Forschung, die zeigt, dass die Assoziation zwischen Maskulinität und effektiver Führung in Krisenzeiten weniger stark gemacht wird», so Schmid. Deshalb sei es möglich, dass stereotype weibliche Eigenschaften als wichtig für die Krisenbewältigung gesehen werden. Dazu gehören laut Schmid Charaktereigenschaften wie warm, verständnisvoll und kommunal.
2012 ernannte der Energiekonzern Alpiq Jasmin Staiblin zur neuen CEO. Dieser Schritt war für sie mit einer grossen Absturzgefahr verbunden: Vier Millionen Schulden erwarteten sie an ihrem ersten Tag als Chefin und ein Marktstrompreis, der mit jeder Minute tiefer sank.
Sie musste also das Unternehmen wieder ins Plus bringen. Und kämpfte fünf Jahre damit. «Der Energiekonzern Alpiq ist weiter damit beschäftigt, sich neu zu erfinden. Weil das traditionelle Geschäft mit der Stromproduktion nicht mehr rentiert, muss Chefin Jasmin Staiblin andere Geschäftsfelder finden», schrieb die Bilanz im Jahr 2015.
Staiblin ist eines der positiven Beispiele von Frauen, die sich in «Glass Cliff» Positionen befinden. 2018 verliess sie das Unternehmen auf eigenem Fuss und sagte über Alpiq: «Wir haben es gepackt!»
Einfach hatte Staiblin es jedoch nicht. Weil sie, als sie ihre zwei Kinder zur Welt gebracht hat, die vom Gesetz erlaubten 16 Wochen bezahlten Mutterschaftsurlaub nahm, während sie eine Führungsposition innehatte, musste sie mit viel medialer Kritik kämpfen. Die in Hinblick auf das «Glass Cliff» Phänomen die Stereotypen nur verstärkt.
2012 ernannte der Energiekonzern Alpiq Jasmin Staiblin zur neuen CEO. Dieser Schritt war für sie mit einer grossen Absturzgefahr verbunden: Vier Millionen Schulden erwarteten sie an ihrem ersten Tag als Chefin und ein Marktstrompreis, der mit jeder Minute tiefer sank.
Sie musste also das Unternehmen wieder ins Plus bringen. Und kämpfte fünf Jahre damit. «Der Energiekonzern Alpiq ist weiter damit beschäftigt, sich neu zu erfinden. Weil das traditionelle Geschäft mit der Stromproduktion nicht mehr rentiert, muss Chefin Jasmin Staiblin andere Geschäftsfelder finden», schrieb die Bilanz im Jahr 2015.
Staiblin ist eines der positiven Beispiele von Frauen, die sich in «Glass Cliff» Positionen befinden. 2018 verliess sie das Unternehmen auf eigenem Fuss und sagte über Alpiq: «Wir haben es gepackt!»
Einfach hatte Staiblin es jedoch nicht. Weil sie, als sie ihre zwei Kinder zur Welt gebracht hat, die vom Gesetz erlaubten 16 Wochen bezahlten Mutterschaftsurlaub nahm, während sie eine Führungsposition innehatte, musste sie mit viel medialer Kritik kämpfen. Die in Hinblick auf das «Glass Cliff» Phänomen die Stereotypen nur verstärkt.
Das klingt auf den ersten Blick positiv – Unternehmen wählen Frauen als Chefinnen aus, weil sie denken, deren Fähigkeiten könnten in der Krise hilfreich sein. Doch es gibt ein Problem: Oft erhalten Frauen nicht dieselben Instrumente oder die gleiche Zeit wie Männer, die es für einen Wandel im Unternehmen bräuchte.
«Frauen in hohen Positionen geben an, es schwieriger zu haben, in soziale Netzwerke und Supportsysteme gut eingebunden zu werden», sagt Schmid. «Sie haben auch weniger Autorität in ihren Positionen als Männer.» Diese klare Benachteiligung durch nicht gegebene Mittel erhöht die Wahrscheinlichkeit eines Sturzes von der gläsernen Klippe.
Der «Retter-Effekt»
Erfolgt der Sturz, und eine weibliche CEO muss ihren Posten abtreten, wird die Schuld für die schlechte Leistung ihr zugeschrieben. Externe Faktoren, die möglicherweise zum Scheitern der Unternehmensorganisation beigetragen haben, werden ausser Acht gelassen. Und sobald sie gescheitert ist, wird ein Mann auf den Posten gesetzt: «Frauen in diesen Glass-Cliff-Positionen werden häufig von Männern ersetzt, um zu signalisieren, dass jetzt alles wieder ‹normal› ist», so Schmid. Auch dieses Phänomen trägt einen Namen: «Saviour Effect». Nimmt ein Mann den Posten an, auf dem eine Frau gescheitert ist, «rettet» er in den Augen der Gesellschaft das Unternehmen.
Solche Geschehnisse werden laut Schmid häufig verwendet, um alte Stereotype zu bestätigen. Zum Beispiel, dass Männer bessere Führungspersonen seien. «Die Eigenschaften, die wir mit Männern assoziieren, sind die gleichen Eigenschaften, die wir mit guter Führung assoziieren.» Stereotypisch gelten für Männer die Eigenschaften kompetent, selbstbewusst und kompetitiv.
Scheitert also eine empathische Frau in der Krise, wird sie ersetzt durch einen kompetitiven Mann. Ob und warum er dann Erfolg hat – diesen Aspekt haben Wissenschafter und Wissenschafterinnen bisher nicht untersucht.
Dem Naturkosmetik-Unternehmen Weleda ging es Ende 2022 nicht gut: Der Umsatz sank zum ersten Mal deutlich. Als Massnahme mussten 1400 Mitarbeitenden in Zwangsferien geschickt werden, um Kosten zu sparen. Dazu kamen interne Rivalitäten und Jahre ohne wirklichen Chef.
Ein kriselndes Unternehmen, das typisch nach «Glass Cliff»-Phänomen eine Frau als CEO einsetzte. Die Auserwählte: Tina Müller, ehemalige Topmanagerin bei Douglas und Opel. Seit dem 1. Oktober dieses Jahres sitzt sie im Chefsessel und soll aufräumen, Probleme lösen und das Unternehmen wieder auf Fahrt bringen.
Dem Naturkosmetik-Unternehmen Weleda ging es Ende 2022 nicht gut: Der Umsatz sank zum ersten Mal deutlich. Als Massnahme mussten 1400 Mitarbeitenden in Zwangsferien geschickt werden, um Kosten zu sparen. Dazu kamen interne Rivalitäten und Jahre ohne wirklichen Chef.
Ein kriselndes Unternehmen, das typisch nach «Glass Cliff»-Phänomen eine Frau als CEO einsetzte. Die Auserwählte: Tina Müller, ehemalige Topmanagerin bei Douglas und Opel. Seit dem 1. Oktober dieses Jahres sitzt sie im Chefsessel und soll aufräumen, Probleme lösen und das Unternehmen wieder auf Fahrt bringen.
Was dagegen unternommen werden kann
Wie kann man Stereotypen bekämpfen? Die Antwort darauf ist komplex. «Stereotype operieren häufig auch unbewusst», sagt Schmid, «Man kann zwar die Meinung haben, dass Frauen genauso in Leadership-Positionen gehören, aber die unbewussten Assoziationen können anders sein.»
Diese unbewussten Assoziationen seien gelernt und von der Gesellschaft geprägt. Und haben einen grossen Einfluss auf das Verhalten. Laut Schmid könne man selber versuchen, sich der eigenen unbewussten Stereotype klar zu werden und das eigene Verhalten zu regulieren, damit diese unbewussten Stereotype nicht zum Ausdruck kommen. Doch eigentlich sei das nicht nur die Aufgabe des Individuums.
«Damit sich Stereotypen ändern, braucht es ein Umdenken in der Gesellschaft. Da müssen auch Bildungseinrichtungen, Regierungen und Medien mit dazu beitragen», sagt Schmid. Was helfen kann, sind Bildung und Aufklärung über stereotype Denkmuster, damit sie nicht länger unbewusst bleiben, oder das Vermeiden von stereotypen Darstellungen von Frauen in den Medien.
Dieser Artikel wurde erstmals im kostenpflichtigen Angebot von handelszeitung.ch veröffentlicht. Blick+-Nutzer haben exklusiv Zugriff im Rahmen ihres Abonnements. Weitere spannende Artikel findest du unter www.handelszeitung.ch.
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«Es müsste auch mehr erfolgreiche Frauen in Leadership-Positionen geben», sagt Schmid. Frauen in Leadership-Rollen zu beobachten, würde die Assoziationen zwischen Frauen und Leadership normaler machen.
Das ist jedoch ein langer Weg: Über die letzten Jahre und Jahrzehnte haben sich Geschlechterstereotype nur sehr wenig verändert. Laut Schmid gibt es Trends, die zeigen, dass sich Stereotype bezüglich Frauen etwas geschwächt haben. Für Männer jedoch sind sie ziemlich gleich geblieben.