Das Einfamilienhaus von Anton Herren (72) im Berner Vorort Liebefeld könnte typischer nicht sein für die Schweiz der 1960er-Jahre: zweistöckig, mit einem bis auf die hellbraune Fassade heruntergezogenen schwarzen Giebeldach. Dazu im Erdgeschoss eine grosse Fensterfront mit direktem Zugang zum Garten. Das Haus ist gut in Schuss, auch wenn es Potenzial für eine energetische Sanierung hat. Vor 15 Jahren baute der Eigentümer es um: neue Küche, neues Badezimmer, später noch ein neuer Parkettboden.
Im Gegensatz zu einigen Nachbarn baute Herren aber nie ein Schwimmbad. Er kaufte auch kein Elektroauto. Sein jährlicher Stromverbrauch lag in den vergangenen drei Jahren bei gut 6000 Kilowattstunden, vor vier Jahren gab es mal einen Ausschlag auf 7400. Und jetzt das: 26'000 Kilowattstunden.
Rechnungsbetrag vervierfacht
Als Herren vergangenen November die Jahresrechnung erhielt, erschrak er. Der 72-Jährige hatte während 46 Jahren ein Baugeschäft geführt. Die Zahl der verrechneten Kilowattstunden beachtete er zunächst nicht, aber mit dem horrenden Betrag konnte etwas nicht stimmen: «Die vier Akontozahlungen von jeweils rund 400 Franken hatten bisher mehr oder weniger die Jahresrechnung gedeckt.»
Jetzt aber kam mit der Schlussrechnung eine Nachforderung von fast 5000 Franken. Statt für 1600 Franken soll Herren für 6500 Franken Strom bezogen haben. «Es ist offensichtlich, da kann etwas nicht stimmen.»
Mit der Energiekrise hat der hohe Rechnungsbetrag nichts zu tun, denn im BKW-Gebiet waren die höheren Strompreise wegen der eigenen Wasserkraftwerke kein Thema. Doch drei eingeschriebene Briefe später war Herren keinen Schritt weiter; die BKW Energie AG stellte sich taub. Also schaltete er einen Anwalt ein. Dieser erreichte immerhin, dass die Mahnungen auf die angeblich geschuldete Nachzahlung vorerst gestoppt wurden.
Herren beauftragte einen Elektriker, um im Haus allfällige versteckte Stromflüsse zu finden. Doch da war nichts. Seit der absurd hohen Abrechnung notiert Herren monatlich den Zählerstand. Jetzt, ein halbes Jahr später, stellt er fest: «Der Verbrauch liegt etwa auf dem Niveau der Vorjahre.»
Ist es der Zähler?
Womöglich liegt also der Fehler ganz woanders – zum Beispiel beim Zähler. Eine wissenschaftliche Untersuchung einer niederländischen Universität hat vor einigen Jahren gezeigt, dass elektronische Zähler unter bestimmten technischen Bedingungen massive Fehler aufweisen können. Ob der Zähler im Hause Herren deshalb spukt, ist unklar.
Theoretisch kann es sich auch um Stromdiebstahl handeln. Was abenteuerlich klingt, kommt gelegentlich vor – etwa wenn Kriminelle unbemerkt eine illegale Hanfanlage betreiben oder Elektroautobesitzer die Batterie an der Steckdose ihres Nachbarn laden.
Aus diesem Grund gibt es Gemeinden, in denen der Netzbetreiber bei einem auffälligen Stromverbrauch die Polizei aufbietet, um einen Augenschein zu nehmen. Stromklau ist im Strafgesetzbuch in Artikel 142 als «unrechtmässige Entziehung von Energie» definiert, mit Androhung einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder einer Geldstrafe.
Die BKW ihrerseits unternimmt wenig, um im vorliegenden Fall den Fehler zu finden. Eine Sprecherin hält fest: «Ein Anstieg des Strombezugs hängt erfahrungsgemäss mit den internen Verbrauchern oder einer Veränderung des Bezugsverhaltens zusammen.»
Allerdings ist eine Vervierfachung des Stromverbrauchs wohl kaum auf die Anschaffung neuer Haushaltsgeräte zurückzuführen: Eine solche Strommenge verbraucht, wer beispielsweise eine Sauna während eines halben Jahres laufenlässt – ununterbrochen.
Immerhin: Auf Drängen von Anton Herren wurde nun ein Kontrollzähler eingebaut. Die BKW stellt sich auf den Standpunkt, dass man so im kommenden Herbst feststellen könne, ob der bestehende Zähler den Stromverbrauch korrekt misst. Der Verteilnetzbetreiber gibt sich kompromisslos: «Die BKW darf davon ausgehen, dass die Messung des Strombezugs in der betroffenen Liegenschaft korrekt funktioniert.» Eingesetzt würden nur geeichte Zähler.
Oder sind es die Stromableser?
Was aber, wenn es nicht der Zähler ist? Recherchen des «Beobachters» zeigen: Vergangenen Herbst gab es bei der Ablesung der Stromzähler im Berner Vorort technische Probleme. Im Liebefeld werden die Zählerdaten von Angestellten der Post ausgelesen. Dazu sind die Smartphones der zuständigen Angestellten mit einer speziellen App ausgerüstet.
Dieses auf dem Handy installierte Programm funktionierte aber zum Zeitpunkt der Ablesung offenbar nur fehlerhaft. In einer E-Mail, die dem «Beobachter» vorliegt, schrieb die zuständige Stelle der Post an ihr Ablesepersonal: «Letzte Woche habe ich über die Probleme mit der Ablese-App informiert. Es hat sich gezeigt, dass im Backend ein Problem vorlag, das die Daten blockierte, und in gewissen Gebieten mit hohen Datenmengen die Zähler nicht normal abgearbeitet werden konnten.» Und weiter: «Wenn Daten nicht heruntergeladen werden können, sind diese vermutlich noch von letzter Woche blockiert.»
Tatsächlich musste der Post-Ableser wegen dieser Probleme vergangenen Herbst dreimal bei Anton Herren vorbeikommen. Obschon der «Beobachter» die BKW auf die technischen Probleme bei der Ablesung hingewiesen hat, hält der Energiekonzern an seiner Sicht der Dinge fest. «Der BKW sind in diesem Gebiet keine fehlerhaften Zählerablesungen bekannt.» Ob der Kontrollzähler eine Erklärung für den absurd hohen Strombedarf liefern wird, ist fraglich. Anton Herren: «Es muss doch möglich sein, den Fehler zu finden.»
Dieser Artikel wurde aus dem Magazin «Beobachter» übernommen. Weitere spannende Artikel finden Sie unter www.beobachter.ch.
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