Wie oft diese mahnenden Sätze aus dem Mund von Gesundheitsminister Alain Berset schon zu hören waren, lässt sich kaum mehr sagen. «Wir sind noch nicht da, wo wir eigentlich sein sollten», bemerkte er am Freitag vor den Medien erneut. Und: «Die Impfquote muss steigen.»
Diese Impfquote! Sie gehört zu den niedrigsten in Europa. Woran es liegt, darüber scheiden sich die Geister. Kritiker monieren, die Kampagne des Bundes sei von Beginn an zu zögerlich gewesen, die Kantone hätten geschlafen. Zudem reagiert die Bevölkerung extrem skeptisch auf jede Form von staatlicher Intervention – mal ist es zu viel, mal zu wenig.
Nun soll eine Impfoffensive für 150 Millionen Franken das Virus zähmen. Ein letztes amtliches Aufbäumen, um endlich aus der Pandemie herauszufinden.
Unter anderem locken die Behörden nun mit Zückerchen. Wer jemanden dazu überredet, sich impfen zu lassen, erhält einen Gutschein im Wert von 50 Franken. Zudem touren demnächst 170 Impfbusse durchs Land, um die Spritzen zu Zögerern, Zauderern und allzu Bequemen zu bringen. Obs hilft?
Ein Schreiben des BAG an die Kantone, in dem es um die Impfoffensive geht, liegt SonntagsBlick vor. Es zeigt detailliert, wie Bersets Injektions- und Beratungstruppe durchs Land ziehen will. Die «national orchestrierte Impfwoche» soll bereits Anfang November starten, also in einem Monat.
Impfquote muss steigen
Bei den über 65-Jährigen zielt der Bundesrat auf eine Impfquote von 93 Prozent. Dafür müssten «noch 100'000 Personen geimpft werden». Bei den 18- bis 65-Jährigen möchte das BAG eine 80-Prozent-Quote, rund 775 '000 fehlen hier noch.
Die Personalstärke der dafür vorgesehenen Truppe ist bemerkenswert. Rund 1700 Beraterinnen und Berater gehören dazu – wohlgemerkt nicht die «Impffluenzer» aus dem Volk, also Bürger, die für einen 50-Franken-Gutschein Freunde und Familie vermitteln sollen, sondern vom Bund angeheuertes Personal.
Allein im Kanton Zürich sind es gut 300 Berater, im Kanton Bern über 200, im Aargau, in der Waadt, in Genf und St. Gallen mehr als 100.
Ein Berater soll 5000 Einwohner informieren, registrieren und vermitteln. Er oder sie ruft an oder schaut bei den Leuten vorbei, wie es im Schreiben des BAG heisst. Die Kantone müssen die Equipe gleichmässig in ihrem Zuständigkeitsgebiet verteilen. 60 Franken pro Stunde hat der Bund pro Berater veranschlagt.
Dazu kommen Impfbusse, die je 50'000 Einwohner erreichen sollen: 30 im Kanton Zürich, 20 in Bern, 13 im Aargau und 10 in St. Gallen – um nur einige zu nennen.
Bund schreitet ein weil Kantone zögern
Berset sagt klipp und klar: Der Bundesrat schreite nun ein, weil klar geworden sei, dass die Bemühungen der Kantone nicht ausreichen. Die Regierungsräte von St. Gallen bis Genf dürften ob der neuerlichen Schelte aus Bern nicht nur jubiliert haben.
Offiziell geben sich die Kantone diplomatisch. Michael Jordi, Generalsekretär der Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK), sagt: «Wir begrüssen, dass sich der Bundesrat engagiert.» Er bemerkt aber auch: «Die Kantone haben schon viel unternommen.»
Kaum ein Kanton will sich zur Offensive des Bundesrats äussern. Schliesslich läuft die Vernehmlassung noch bis zum 6. Oktober. Hinter vorgehaltener Hand ist aber zu hören, dass man der «absurden Verzweiflungsaktion», wie es das Exekutivmitglied eines grossen Kantons formuliert, nicht viel abgewinnen kann. Der Bundesrat werde die Quittung schon erhalten. Aus vielen anderen Kantonen tönt es ähnlich.
Kleinere Kantone wie Appenzell Innerrhoden, mit einer Impfquote von weniger als 50 Prozent einer der am wenigsten immunisierten des Landes, sind irritiert. Gesundheitsvorsteherin Monika Rüegg Bless: «Die Fronten sind gemacht. Alle, die sich impfen wollten, sind geimpft. Vielleicht ist es auch das Ende der Fahnenstange.»
Ein Blick in die Statistik zeigt jedenfalls: Die Zertifikatspflicht hat nur zu einem vorübergehenden Impfanstieg geführt. Ob die Abschaffung der Gratistests zu einer weiteren Steigerung führt, ist fragwürdig. Viele interpretieren das als Impfzwang. Woran auch Bersets mahnende Worte wenig ändern.