Die Schweizerische Nationalbank (SNB) fliegt von einem Negativrekord zum nächsten: Nach einem Minus von 32,8 Milliarden im ersten und 62,4 Milliarden im zweiten Quartal kommen im dritten Jahresviertel nochmals 47,2 Milliarden dazu, rechnet die SNB vor. Damit kommt sie von Januar bis September 2022 auf einen Verlust von 142,4 Milliarden Franken. Das ist der grösste Verlust in der 115-jährigen Geschichte der Nationalbank.
Der Rekordverlust gefährdet akut die Ausschüttungen an Bund und Kantone. Und er wirft zahlreiche Fragen um die finanzielle Stabilität der Nationalbank auf. Blick liefert die wichtigsten Antworten.
Wie ist ein derart hoher Verlust überhaupt möglich?
Das liegt vor allem am riesigen Berg an Fremdwährungen, die die Schweizerische Nationalbank hält. Zum Ende des dritten Quartals türmten sich die Devisenanlagen auf über 800 Milliarden Franken auf. Eine derart riesige Bilanzsumme kann für gewaltige Gewinne sorgen – oder, wie in diesem Jahr, genauso schnell für ein dickes Minus. Wertet sich der Franken gegenüber den wichtigsten Fremdwährungen beispielsweise um ein Prozent auf, führt dies unmittelbar zu einem Verlust von über acht Milliarden Franken.
Was waren die Hauptgründe für die Milliarden-Misere?
Aktuell treffen gleich mehrere negative Faktoren aufeinander: Die Inflation, der Ukraine-Krieg und die Rezessionsängste haben die Aktienmärkte auf Talfahrt geschickt. Die weltweit steigenden Zinsen führten zu hohen Bewertungsverlusten auf den Anleihenmärkten. Dazu hat die Aufwertung des Frankens gegenüber dem Euro der SNB riesige Verluste eingebracht.
In welchen Bereichen hat die SNB am meisten verloren?
Die Nationalbank musste auf ihren Fremdwährungspositionen Verluste von 141 Milliarden Franken hinnehmen. Davon sind 70,9 Milliarden Franken auf Kursverluste bei Zinspapieren und -instrumente zurückzuführen. Zinspapiere sind Wertschriften wie Obligationen, deren Erträge normalerweise hauptsächlich als Zins und nicht via Kursveränderungen anfallen. Doch die aktuelle Börsentalfahrt hat auch vor diesen Anlagen nicht haltgemacht – genauso wenig wie vor den Beteiligungspapieren und -instrumenten. Hier beläuft sich der Verlust auf 54,2 Milliarden Franken.
Hat es die SNB verpasst, ihre Bilanzsumme rechtzeitig abzubauen und das Verlustrisiko zu minimieren?
Gewinne zu scheffeln, gehört nicht zu den Aufgaben der SNB. Sie muss mit ihrer Geldpolitik für Preisstabilität sorgen und der konjunkturellen Entwicklung Rechnung tragen. Dafür verfolgt sie bei der Inflation ein Zielband von 0 bis 2 Prozent. «Weil die SNB jahrelang unter diesem Ziel lag, hat sie ihre Bilanz in extremem Mass ausgedehnt und so die Wirtschaft angekurbelt. Dort kann man ihr nichts vorwerfen», sagt Yvan Lengwiler (58), Wirtschaftsprofessor an der Universität Basel. Inzwischen liegt die Inflation in der Schweiz mit 3,3 Prozent im September jedoch deutlich über dem Ziel und die SNB hat ihre Bilanzsumme seit Jahresbeginn von 1057 Milliarden Franken auf 889 Milliarden abgebaut.
Droht der SNB sogar die Pleite?
Die SNB kann nicht Konkurs gehen. Rutscht das Eigenkapital der SNB ins Minus, hätte dies für die Bank keine unmittelbaren Auswirkungen. In diesem Fall würde einfach die Ausschüttungsreserve in den negativen Bereich fallen. Eine Notenbank ist aber gut damit beraten, nicht zu lange ein negatives Eigenkapital auszuweisen. Ansonsten leidet ihre Glaubwürdigkeit an den Märkten. Und das kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass sie ihrem geldpolitischen Auftrag nicht mehr uneingeschränkt nachgehen kann.
Steht nun der Extra-Batzen an die Kantone und den Bund auf der Kippe?
Sie sind akut gefährdet. Je mehr Gewinn die SNB erzielt, desto mehr Geld kann sie an die Kantone und den Bund ausschütten. Im letzten Jahr floss noch der Maximalbetrag von sechs Milliarden Franken, von dem zwei Drittel an die Kantone gingen. Der voraussichtliche Ausfall sei für die Kantone «sehr schmerzhaft, aber wegen der Entwicklungen in diesem Jahr keine Überraschung», so Ernst Stocker (67), Präsident der Finanzdirektorenkonferenz (FDK) und Finanzdirektor des Kantons Zürich. Alarm schlagen will er aber trotzdem nicht. Bereits 2013 habe es keine SNB-Ausschüttungen gegeben, im darauffolgenden Jahr seien diese dann dafür sehr hoch ausgefallen. Klar sei: Gewissen Kantonen werde das voraussichtliche Loch im Budget schwer zu schaffen machen, andere kämen gut ohne den Extra-Batzen der SNB zurecht.
Müssen die Kantone bei einem Ausfall der SNB-Milliarden die Steuern erhöhen?
In den vergangenen Jahren konnten die Kantone stark von den SNB-Gewinnausschüttungen profitieren. Der Kanton Zürich lässt auf Anfrage verlauten, dass weder ein Sparpaket noch eine Steuererhöhung anstehe. In Bern stehen noch keine konkreten Massnahmen fest, eine Erhöhung der Steuern sei bis anhin aber nicht in Betracht gezogen worden. Auch der Kanton St. Gallen beschwichtigt: Kurzfristig sehe man keine Notwendigkeit, die Steuern anzupassen oder Leistungen zu kürzen. Der Kanton Genf erwartet in den nächsten zehn Tagen noch Budget-Änderungen für das Jahr 2023. Danach werde man die finanzielle Lage des Kantons besser einschätzen können. Eine Erhöhung der Steuern stehe aber auch in Genf ausser Frage.
Könnte die Notenbank die Ausschüttungen trotz Milliarden-Verlusten vornehmen?
Theoretisch ja. Die Notenbank verfügt neben den Ausschüttungsreserven in Höhe von 102 Milliarden Franken noch über Rückstellungen für Währungsreserven in der Höhe von 96 Milliarden Franken. Die gesamten Reserven liegen folglich deutlich über dem Verlust: Die Notenbank könnte ihre Rückstellungen für Währungsreserven anzapfen und hätte genug Geld für die Ausschüttungen an die Kantone und den Bund, sagt Wirtschaftsprofessor Yvan Lengwiler: «Falls die SNB kein Geld ausschüttet, geschieht dies, weil sie nicht will und nicht, weil sie nicht kann.» Er rechnet trotzdem nicht damit, dass die SNB in diesem Jahr Geld ausschüttet. Obwohl ein Abbau dieser Rückstellungen unproblematisch wäre, wie Lengwiler sagt: «Bei der US-Notenbank gibt es diese Rückstellungen beispielsweise überhaupt nicht.»