Der Anblick schockiert Stefanie Siegenthaler (25) noch heute. Vor der Kunstturnerin liegen Bilder eines Fotoshootings aus dem Frühling 2017. Die Haut spannt über ihre Knochen. Die Rippen stehen scharf hervor. Sie wiegt 42 Kilo. Und das bei einer Körpergrösse von 1,58 Metern. Gemäss ihrem Body-Mass-Index von 16,82 ist sie untergewichtig. Sie müsste mindestens fünf Kilo mehr wiegen. Während sie sich selber betrachtet, sagt die mehrfache Schweizer Meisterin am Stufenbarren: «Es ist, als würde ich jemand anderes anschauen.»
Siegenthaler sitzt an einem Holztisch in Magglingen BE. Schulter an Schulter mit ihrer Mutter Vreni Hegetschweiler (57). Vor ihnen stehen zwei Tassen Kaffee. Vier Bäume spenden Schatten. Nur ein weiterer Gast sitzt im Aussenbereich des Restaurants. Knapp 200 Meter entfernt befindet sich die Trainingshalle der besten Schweizer Kunstturnerinnen und Kunstturner. Hier hat 2013 alles begonnen.
Siegenthaler hat sich entschlossen, mit dem SonntagsBlick Magazin erstmals öffentlich über die schlimmste Zeit ihres Lebens zu sprechen. Die Zürcherin gehört zu den besten aktiven Schweizer Kunstturnerinnen. Sie führt das Nationalteam als Kapitänin an. Siegenthalers Bekenntnis kommt in einer Phase voller Turbulenzen für den Schweizer Turnsport. Seit Jahren herrscht im Schweizerischen Turnverband (STV) Unruhe. 2020 machte der Blick systematischen psychischen Missbrauch bei der Rhythmischen Gymnastik öffentlich. Seither kommt der Verband nicht mehr zu Ruhe. Letzte Woche trennte er sich von der Direktorin Béatrice Wertli, die angetreten war, um den Verband zu stabilisieren. Siegenthalers Leiden begannen vor Jahren. Ihre Geschichte wirft einen weiteren Schatten auf die jüngste Vergangenheit des grössten Schweizer Sportverbands.
Der unangenehme Gang auf die Waage
Stefanie Siegenthaler galt als grosses Talent. Mit 15 Jahren durfte sie deshalb ins nationale Leistungszentrum in Magglingen ziehen, untergebracht war sie bei einer liebenswürdigen Gastfamilie. Sie war topfit, träumte von einer grossen Karriere. «Ich fühlte mich richtig wohl.» Bis sie das erste Mal in der Trainingshalle stand.
Das Verhalten des ungarischen Trainers Zoltan Jordanov erschütterte die Zürcherin. «Vor der ganzen Mannschaft beleidigte er gewisse Athletinnen. Er kritisierte ihr Gewicht.» Siegenthaler blieb davon verschont, musste jedoch wie alle anderen jede zweite Woche vor dem Trainer auf die Waage stehen. «Das war richtig unangenehm. Ein Psychoterror.»
Beim ehemaligen ungarischen Coach handelt es sich um den Erfolgstrainer der Schweizer Kunstturn-Legenden Ariella Kaeslin (35) und Giulia Steingruber (29). Jahrelang wurde er gefeiert, jetzt beginnt sein Denkmal zu bröckeln. SonntagsBlick bat ihn mehrfach um eine Stellungnahme. Eine Antwort blieb aus.
Bevor er 2007 in die Schweiz kam, trainierte Zoltan Jordanov die Nationalteams von Ungarn, dann zehn Jahre von Grossbritannien und schliesslich zehn Jahre in der Schweiz. Beim Schweizerischen Turnverband begleitete er zusammen mit seiner Frau und Assistentin Sznezsana in Magglingen zunächst Ariella Kaeslin, dann Giulia Steingruber durch ihre glänzenden Karrieren. Die Gossauerin formte er vom jungen Talent bis zu ihrem Karriere-Höhepunkt bei Olympia 2016 in Rio de Janeiro, wo Giulia die Bronzemedaille in der Disziplin Sprung holte. Danach kehrte das ungarische Ehepaar Jordanov in die Heimat zurück. Dort ist Jordanov heute als beratender technischer Leiter für den Nachwuchs tätig.
Bevor er 2007 in die Schweiz kam, trainierte Zoltan Jordanov die Nationalteams von Ungarn, dann zehn Jahre von Grossbritannien und schliesslich zehn Jahre in der Schweiz. Beim Schweizerischen Turnverband begleitete er zusammen mit seiner Frau und Assistentin Sznezsana in Magglingen zunächst Ariella Kaeslin, dann Giulia Steingruber durch ihre glänzenden Karrieren. Die Gossauerin formte er vom jungen Talent bis zu ihrem Karriere-Höhepunkt bei Olympia 2016 in Rio de Janeiro, wo Giulia die Bronzemedaille in der Disziplin Sprung holte. Danach kehrte das ungarische Ehepaar Jordanov in die Heimat zurück. Dort ist Jordanov heute als beratender technischer Leiter für den Nachwuchs tätig.
Süssigkeiten-Razzia im Trainingslager
Welche Bedeutung das Essen im Kunstturnen hat, merkte Siegenthaler bereits früh. Als sie als Sechsjährige in einem Trainingslager weilte, stürmten am Abend unangekündigt ihre Trainer in die Zimmer. Sie durchsuchten jeden Koffer. «Wenn sie Süssigkeiten fanden, nahmen sie diese mit.» Siegenthaler versteckte ihr Nutella-Glas jeweils derart geschickt, dass sie nicht aufflog. «Dem Geheimfach in meinem Koffer sei Dank.»
Trotz dieser Vorfälle blieb sie jahrelang von körperlichen Beschwerden verschont. Bis zu einem Wettkampf in Brasilien im Frühling 2016. Eine ihrer besten Kolleginnen turnte schlecht. Anstatt sie zu ermutigen, griff sie ein Trainer verbal an. Er kritisierte einmal mehr ihr Gewicht. Das ganze Team hörte mit. Kurz darauf wurde die Athletin aufgrund des zu hohen Gewichts aus dem Kader geschossen. «Mich hat diese Episode schockiert. Wohl fast noch mehr als meine Kollegin.»
Harmonie zwischen Mutter und Tochter
Der Körper von Siegenthaler begann zu rebellieren. Sie kämpfte mit Bauchschmerzen. Manchmal begann es bereits während des Mittagessens. «Ich sass vor einem vollen Teller, brachte aber keinen Bissen mehr runter.» Dabei war die Zürcherin auf jedes Gramm Energie angewiesen. Tagtäglich trainierten die Athletinnen rund fünf Stunden. «Ich stopfte eine Gabel nach der anderen in mich hinein. Es war eine Qual.»
Während Siegenthaler erzählt, wirkt sie relaxt. Die Sätze kommen aus einem Guss. Ihre Gedanken sind klar geordnet und strukturiert. Auch ihre Mutter wirkt gefasst. Die beiden harmonieren. Immer wieder ergänzen sie sich bei den Erzählungen.
Eine Umarmung, die Sorgen macht
Nach dem Wettkampf in Brasilien nahm der Leidensweg seinen Lauf. Monatelang fühlte sich Siegenthaler unwohl, zitterte am ganzen Körper. Die Trainingshalle wurde zur Folterkammer. «Ich akzeptierte die Schmerzen, lernte, damit umzugehen.» Gegenüber ihrem Trainer schwieg sie. Schwächen einzugestehen, war verpönt. Die Angst vor möglichen Konsequenzen zu gross. «Falle ich länger aus, nimmt jemand anderes meinen Platz ein.»
Nur mit ihrer Mutter sprach sie über ihre Probleme. Diese erinnert sich noch gut daran. «Ich fühlte mich hilflos.» Von Zürich aus versuchte sie, ihre weinende Tochter am Telefon zu beruhigen. Siegenthaler verlor ein Kilo nach dem anderen. «Wenn sie nach Hause kam, hatte ich bei unserer Umarmung jedes Mal weniger in den Fingern», erzählt ihre Mutter. «Ich hatte Angst vor einer Magersucht.» Siegenthaler liess nichts unversucht, stellte die Ernährung mehrfach um. Erfolglos.
Der schleichende Prozess in Richtung einer schweren Krankheit fiel auch Teamkollegin Giulia Steingruber auf. Die Olympia-Dritte am Sprung 2016 erinnert sich: «Stefi hat in dieser Phase sehr kontrolliert gegessen und nicht sehr viel. Teilweise hat sie gewisse Dinge weggelassen.»
Ein zusätzlicher Kilo-Stress
Im Frühsommer 2016 ging nichts mehr. Die Zürcherin suchte das Gespräch mit dem ungarischen Trainer. Seine Reaktion? «Dann gehst du nach Hause.» Für Siegenthaler ein weiterer Schlag in die Magengrube. Übersetzt hiess der Satz für sie: Du bist schwach geworden. «Etwas Schlimmeres kannst du einer Athletin kaum sagen.» Der Trainer schob sie an die medizinische Betreuung in Magglingen ab.
Von den Ärzten erhielt sie Zweiwochenziele. Innerhalb von 14 Tagen sollte sie rund drei Kilo zunehmen. Erfüllte Siegenthaler die Vorgaben nicht, drohte ihr ein Trainings- und Wettkampfverbot. «Dieser zusätzliche Stress belastete mich sehr.» Obwohl sie weiterhin ausgewogen und ihrer Ansicht nach genug ass, blieben die Fortschritte aus. Zudem setzten Zyklusstörungen ein.
Radikaler Schritt der Ärzte
Den Verantwortlichen blieb keine Wahl: Siegenthaler erhielt ein Startverbot für die Schweizer Meisterschaft (SM) im Sommer 2016. Zu akzeptieren, dass sie eine Pause benötigte, fiel ihr schwer. «Sie haben mir das genommen, was ich am meisten liebte.» Was in den darauffolgenden Wochen passierte, weiss Siegenthaler nicht mehr. «Ich habe es verdrängt.»
Spätestens als sie bei der SM fehlte, ahnte die gesamte Kunstturnszene, was los war. Bei ihrem Wettkampfcomeback im Herbst 2016 verfolgten Siegenthaler kritische Blicke. Es wurde getuschelt. «Das war richtig unangenehm», erinnert sie sich. In ihrem engen Turndress konnte sie nichts verstecken. «Als Athletin bist du ausgestellt.»
Horror-Erlebnis im Training
Trotz Misstönen glückte das Comeback. Anfang 2017 verliess der ungarische Coach Zoltan Jordanov den Verband und ging in Pension.
Die Bauchschmerzen bei Siegenthaler blieben, doch es schien aufwärtszugehen bei Siegenthaler. Zumindest für kurze Zeit. Während eines Trainings sendete ihr abgemagerter Körper ein weiteres Warnsignal. Siegenthaler stand auf dem zehn Zentimeter breiten Schwebebalken, sprang hoch und begann sich zu drehen. Mitten in der Luft verlor sie die Kontrolle über ihren Körper. «Ich wusste nicht mehr, wo unten oder oben ist.» Wie durch ein Wunder landete sie auf ihren Beinen.
Die neuen Trainer, Natalia Michailowa und Fabien Martin, reagierten vehement. «Sie öffneten mir die Augen.» Noch in der Trainingshalle erklärten sie Siegenthaler, dass sie immer noch zu leicht sei und deshalb zu wenig Energie habe. Sie schickten sie zum Arzt. «Bei ihnen merkte ich, dass sie mir wirklich helfen wollen. Dafür werde ich ihnen immer dankbar sein.» Diese Worte sind umso bemerkenswerter, da Martin und Michailowa Jahre später im Zuge der «Magglingen-Protokolle» in die Kritik gerieten. Es ging um Beleidigungen, um Mobbing, um eine Angstkultur.
Ein Akt der Verzweiflung
Auf dem Weg zum Ärzteteam in Magglingen weinte Siegenthaler. Es drohte die nächste Pause, vielleicht sogar das Karriereende. «Ich war am Boden zerstört.»
Der Frust nahm in den Gesprächen mit den Experten weiter zur. «Ich fühlte mich nicht ernst genommen.» Ihr wurde eingetrichtert, dass sie magersüchtig sei. «Sie warfen mir vor, dass ich nichts essen will und mich jeweils freiwillig übergebe nach einer Mahlzeit. Alles Lügen!» Für die Zürcherin war klar, dass sie ein medizinisches Problem hat.
Abklärungen bei Spezialisten ergaben keine Erklärung für alle ihre Probleme. Da begann sich die Zürcherin erstmals mit dem Gedanken zu beschäftigen, dass womöglich ihr Kopf das Problem sein könnte. Lange hatte sie sich gegen diesen Gedanken gewehrt: «Ich dachte, ich habe Bauchschmerzen, ihr müsst doch nicht in meinem Kopf nach der Antwort dafür suchen.»
Essensprotokoll widerspricht eigenem Gefühl
Siegenthaler liess sich auf eine psychologische Behandlung ein. Die Bekanntschaft mit der Psychologin Rahel Locher Mitte 2017 bezeichnet sie heute als «Lotto-Sechser», obwohl die Gespräche nicht nur angenehm waren.
Siegenthaler musste ein Ernährungsprotokoll führen und realisierte bald, dass sie, entgegen ihrer eigenen Wahrnehmung, zu wenig ass. Pro Tag waren es knapp 1400 Kalorien. Eine Spitzensportlerin benötigt rund doppelt so viel. Was jetzt? Locher setzte den Hebel indirekt beim Essen an. «Wir beschäftigten uns mit Techniken, wie Stefanie besser mit Stress umgehen kann.» Letztlich war es der Stress, der zu den Bauchschmerzen führte. Weniger essen war eine Konsequenz davon.
Locher schaute, dass Stefanie Siegenthaler nicht mehr auf eine Waage stand. «Dadurch würde nur wieder ein zusätzlicher Druck entstehen», erklärt die Psychologin. Nach einem Dreivierteljahr begann sich die Situation von Siegenthaler zu verbessern. «Ohne Rahel Locher hätte ich es wohl nicht geschafft. Dank ihr bin ich weggekommen vom Perfektionismus im Alltag. Diese Angewohnheit war mit viel Stress verbunden.»
Die alten Bilder als Mahnmal
Mittlerweile ist Ruhe eingekehrt im Leben von Siegenthaler. «Es geht mir gut», meint sie schmunzelnd. Doch die Missstände in Magglingen dauern an: Im Juli machte SRF ein Schreiben der Athletinnen an den Verband öffentlich. Darin ist von «fatalen Missständen im Trainerteam» die Rede. Mittlerweile wurde ein Teil des Trainerteams entlassen. Siegenthaler will sich dazu nicht äussern, sagt aber auf die Essensthematik bezogen: «Es hat sich sehr viel zum Positiven entwickelt.» Der Turnverband stärkt Siegenthaler den Rücken. «Wir unterstützen, dass unsere Athletinnen und Athleten selbst auf solche Themen aufmerksam machen und sensibilisieren.» Seit neustem steht den Kunstturnerinnen und Kunstturnern eine Ernährungsberaterin zur Seite.
Jeden Mittwochmorgen gönnt sich Stefanie Siegenthaler ein Nutella-Brötchen. Auch in der Umkleidekabine wird inzwischen gegessen. Was den einen oder anderen ungebetenen Gast anlockt. «Mäuse stibitzen unsere Nüsse», sagt sie schmunzelnd. Siegenthaler kann wieder lachen, wenn sie über das Essen spricht.
Die alten Bilder behält sie auf ihrem Laptop. Aus Selbstschutz. «Sollte ich einen Rückfall haben, erinnern mich diese an die schlimmste Zeit meines Lebens.» Motivation genug, um es nie wieder so weit kommen zu lassen.