Herr Zellweger, Ihr Vater Sepp war während Jahrzehnten Dorfpolizist. War das für Sie als Kind und Jugendlicher gut oder schlecht?
Sepp Zellweger: Das ist eine interessante Frage. Dorfpolizisten, Lehrer und Pfarrer hatten damals schon noch ein gewisses Renommee und waren deshalb Respektspersonen. Der Polizeiposten lag damals mitten im Dorf. Wenn jeweils Kinder huckepack ein Gschpänli auf dem Velo-Gepäckträger mitnahmen und mein Vater das sah, hielt er sie an und gab ihnen als Strafe nicht etwa eine Busse – die hätten ja sowieso die Eltern bezahlt –, sondern den Auftrag, einen Aufsatz zu schreiben und darin zu erklären, warum sie jetzt verbotenerweise zu zweit auf dem Velo unterwegs gewesen waren.
Kamen Sie als Kind auch einmal wegen etwas «Illegalem» von Ihrem Vater dran?
Einmal. Auf dem Weg zur Sekundarschule lief ich immer an ein paar Gärten mit wunderbaren Apfelbäumen vorbei. Eines Tages füllte ich mir damit die Taschen. Als mein Vater das mitkriegte, gab es schon Ärger, und er zog mich an den Ohren.
Was waren Sie für ein Kind?
Ich war das jüngste von drei Kindern und habe schon ab und zu auch «Seich» gemacht. Einmal bekam ich ein Luftgewehr geschenkt und habe aus Versehen beim Nachbarn einen Spatz vom Baum geschossen. Als ich dann dieses tote, warme Vögeli in den Händen hielt, hat mir das extrem wehgetan. Ich habe es sogar noch beerdigt und danach nie mehr mit dem Luftgewehr geschossen.
Der 60-Jährige galt in den 80ern als der beste Turner der westlichen Welt. 1983 gewann er an den Ringen EM-Bronze. Der Ostschweizer nahm 1984 und 1988 an den Olympischen Spielen teil und wurde 24 Mal Schweizer Meister. Seit Januar 2023 arbeitet er für Julius Bär und leitet den neuen Bereich für gemeinnützige Stiftungen in der Schweiz.
Der 60-Jährige galt in den 80ern als der beste Turner der westlichen Welt. 1983 gewann er an den Ringen EM-Bronze. Der Ostschweizer nahm 1984 und 1988 an den Olympischen Spielen teil und wurde 24 Mal Schweizer Meister. Seit Januar 2023 arbeitet er für Julius Bär und leitet den neuen Bereich für gemeinnützige Stiftungen in der Schweiz.
Der Legende nach sollen die Olympischen Spiele 1972 in München Ihr Leben verändert haben.
Das war so. Ich schaute mir damals die Kunstturn-Wettkämpfe an und war völlig fasziniert von den Japanern, die in der Luft herumwirbelten. Von der einen auf die andere Sekunde wusste ich, dass ich Kunstturner werden möchte.
Kunstturnen ist ein brutaler Sport. Haben Ihnen dieser Drill und die harten Trainings nie etwas ausgemacht?
Eigentlich nicht. Mit 15 kam ich nach Magglingen. Ich durfte jeweils am Samstag um 12 Uhr zurück nach St. Margrethen reisen und musste dann am Sonntagmittag wieder in Magglingen einrücken. Doch diese 24 Stunden zu Hause halfen mir, wieder die Batterien aufzuladen. Aber ja, die Trainings waren schon hart, ich hatte aber mit Jack Günthard einen Trainer, der für mich wie ein Vater war. Und mir war immer klar, dass ich durch dieses Stahlbad gehen muss, wenn ich erfolgreich werden will. In meinem Zimmer in Magglingen hing ein Poster von Bruce Lee, dem fittesten Menschen des 20. Jahrhunderts. Das war mein Ansporn und Sprüche wie «Der Wille zum Sieg wird im Training geboren», den ich mal in einer Turnhalle in der DDR gesehen hatte.
Gab es als Teenager nie den Moment, alles hinzuschmeissen?
Einmal gab es eine schwierige Phase. Das war, als ich meine erste Freundin hatte und die Noten im Gymnasium nachliessen. Da musste ich zusammen mit meinem Vater in der Schule in Bern beim Rektor antraben. Als mein Vater und ich nach dem Gespräch nach St. Margrethen fuhren, sagte er mir: «Freundin, Schule, Sport – du machst zurzeit drei Sachen, das ist eine zu viel.» Ich entschied mich dann für den Sport und die Schule – und gegen die Freundin.
Als 18-Jähriger durften Sie 1981 zwei Wochen lang mit der sowjetrussischen Nationalriege in Moskau trainieren. Wie war das?
Das war im Januar. Es war brutal kalt. Wenn man draussen war, froren innerhalb von Sekunden die Nasenflügel an. Ich wurde damals vom Verbandspräsidenten und Olympiasieger Juri Titow eingeladen und wohnte im Hotel Metropol am Roten Platz. Jeden Morgen wurde ich mit einer Limousine abgeholt und zur Turnhalle gefahren.
Klingt nach Luxus.
Sie hätten aber die Turnhalle, wo wir trainiert haben, mal sehen sollen. Zahlreiche Scheiben waren kaputt, vor die man dann einfach eine Matratze gehängt hatte. Und die Trainings waren richtig brutal und hart. Trotzdem haben mir solche Reisen Spass gemacht. Als Kunstturner habe ich in den ersten Jahren von der Sporthilfe 400 Franken pro Monat bekommen. Das war quasi mein Lohn, aber dank des Sports konnte ich schon in jungen Jahren die ganze Welt bereisen. So war ich zum Beispiel schon 1979 während der Apartheid in Südafrika.
Und mit 18 waren Sie auch schon in China.
Auch das war unglaublich. Die Chinesen, damals im Westen noch geächtet, luden uns 1981 zu einer Show-Tournee ein. Die Strassen waren schon in jenen Jahren riesig breit, doch es gab noch kaum Autos. Wenn wir jeweils irgendwo aus unserem Bus ausstiegen, waren wir innerhalb von wenigen Minuten von Hunderten von Leuten umgeben, weil wir auf die Chinesen wie Ausserirdische wirkten.
Spätestens 1983 waren Sie endgültig an der Weltspitze angelangt. An den Ringen gewannen Sie EM-Bronze.
Dafür erhielt ich übrigens bei der Siegerehrung eine Silbermedaille.
Ist das Ihr Ernst?
Ja, die EM fand damals im bulgarischen Warna statt, und es war ziemlich chaotisch. Offenbar hatten die zu wenige Bronzemedaillen, deshalb überreichten sie mir eine silberne, die ich bis heute noch besitze.
Ähnlich speziell: 1985 erschien in der Elfenbeinküste eine Briefmarke mit Ihnen drauf. Wissen Sie mittlerweile, wie es dazu kam?
Nein. Ein Pilot machte mich einst darauf aufmerksam. Die Aufnahme drauf ist von den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles. Wie es dazu kam, ist mir bis heute schleierhaft.
Eine Ehre kam Ihnen einst auch in Rom zuteil. Stichwort goldenes Besteck.
Mein Trainer Jack Günthard war zuvor Italiens Nationalcoach und feierte dort grosse Erfolge. Einmal ging ich mit ihm in Rom ins Ristorante Alfredo essen. Dort gibt es die beste Pasta der Welt und für Berühmtheiten offenbar ein goldenes Besteck. Sophia Loren, Brigitte Bardot, Frank Sinatra, Gina Lollobrigida – sie alle durften mit dem Besteck schon essen und sich ins Gästebuch eintragen. Dank dem Legendenstatus von Jack Günthard wurde mir damals diese Ehre auch zuteil.
In den 80ern galten Sie als der beste Turner der westlichen Welt. Warum waren die Sowjetrussen, Rumänen, Chinesen und Co. so viel besser als die Turner aus dem Westen?
Ich glaube nicht, dass es am Doping lag. Damals gab es im Osten einfach einen grossen Wissensvorsprung. Erst als der Eiserne Vorhang fiel und viele Trainer in den Westen abgewandert sind, holten wir im Westen auf. Was damals erstaunlich war: Die sowjetrussischen Turner haben fast alle geraucht. Die gingen jeweils während der Wettkämpfe vor die Halle, um eine zu rauchen. Eigentlich unglaublich. Mir hat es übrigens nie etwas ausgemacht, dass ich gegen die Turner aus dem Ostblock oft chancenlos war. Ich war immer stolz darauf, dass ich das erreicht hatte, was im Bereich des Möglichen lag.
Apropos Osten: Hatten Sie während Ihren Aufenthalten dort nie Angst, bespitzelt zu werden?
Nein, aber speziell war, dass damals in den 80ern in der Schweiz eine Fiche über mich angelegt wurde. Als es später zum Fichenskandal kam und alles aufflog, sah ich meine Akte ein. Dort stand wortwörtlich: «Auffällig häufige Ostkontakte.»
Wer mit Ihnen redet, muss auch über Ihre Körpergrösse von 159 Zentimetern reden. Schon 1980 schrieb die «NZZ» verniedlichend: «Die Überraschung aber war der kleine Sepp Zellweger.»
Das Spezielle daran ist: Solange ich in der Turn-Bubble war, fiel mir das gar nie auf. Erst als ich ins Berufsleben einstieg, realisierte ich, dass 1,59 Meter weit unter dem Durchschnitt ist.
Leiden Sie manchmal darunter?
Nein, nur im Lift fühle ich mich unwohl, da ich mich auf Ellbogenhöhe der Mitfahrenden befinde.
Vor einigen Jahren hiess es, auf Ihren Visitenkarten würde nicht Sepp, sondern Josef Robert Zellweger stehen. Warum?
Das ist jetzt lustig, dass Sie mich darauf ansprechen, denn auf meinen neuen Visitenkarten steht jetzt wieder Sepp Zellweger.
Wie kam es dazu?
Da muss ich kurz ein bisschen ausholen. Nach dem Kunstturnen und dem Abschluss meines Studiums ging ich zur Credit Suisse. Ich wollte damals nicht mehr der ehemalige Kunstturner Sepp Zellweger sein, sondern der Banker Josef Robert Zellweger. Deshalb stand das auch auf meiner Visitenkarte, und auch meine Mailadresse lautete so. Nach über 30 Jahren bei der Credit Suisse war ich mit deren Geschäftsgebaren nicht mehr einverstanden. Irgendwann realisierte ich, dass ich das System nicht verändern kann, ich mich aber schon. Deshalb verliess ich nach 33 Jahren die CS und wechselte zu Julius Bär. Als ich dann an einem Business-Lunch einen Werbefachmann kennenlernte, sagte der mir, auf meiner Visitenkarte müsse unbedingt Sepp Zellweger stehen, weil das doch ein Brand sei. Das leuchtete mir ein. Und so nutzte ich diesen beruflichen Neuanfang für einen «Namenswechsel».
2003 lernten Sie Ihre heutige indonesische Frau Atin kennen. War es Liebe auf den ersten Blick?
Das erste Mal sah ich sie an einer Grillparty und das zweite Mal auf einer Restaurantterrasse. Beide Male verabschiedete sie sich um exakt 23 Uhr. Als ich sie fragte, warum dies so sei, antwortete sie mir: «Weil ich am nächsten Tag wieder arbeiten muss.» Dieses Pflichtbewusstsein faszinierte mich.
Darf man fragen, ob es ein bewusster Entscheid war, keine Kinder zu kriegen?
Das dürfen Sie. Die Antwort ist nein. Wir bauten damals unser Haus in Bergdietikon mit zwei Kinderzimmern. Leider sind die bis heute leer. Als Atin Kinder wollte, war ich noch nicht so weit, und als ich wollte, klappte es leider nicht mehr. Auch nicht mit moderner medizinischer Hilfe. Wir überlegten uns dann, ob wir ein Kind aus Indonesien adoptieren sollen, doch leider gab es damals keine Vereinbarung zwischen Indonesien und der Schweiz. Wir haben uns mittlerweile längst damit abgefunden, kinderlos zu sein, aber manchmal bin ich schon ein bisschen traurig, dass der Stammbaum der Zellwegers, der bis 1397 zurückgeht, nun einfach enden wird.
Eine letzte Frage noch: 1989 erschien im Blick auf der Frontseite eine Geschichte über Josef Zellweger. Ist das Ihr Vater?
Ja, diese Geschichte ist unglaublich tragisch. Mein Vater ging damals im Bregenzerwald in Schoppernau Skifahren. Kurz vor der Mittagspause fuhr er noch einmal runter. Da kam ihm mitten auf der Skipiste ein Angestellter mit einem Töff entgegen. Der andere fuhr meinen Vater voll über den Haufen. Es grenzt an ein Wunder, dass er den Unfall überlebt hatte. In den Jahren danach musste er 33 Mal operiert werden, und weil er auch noch später an den Folgen davon litt, musste er bei der Polizei in den Innendienst wechseln, womit er sehr gehadert hatte. Mit ihm heute darüber zu reden, ist leider nicht mehr möglich. Er hat Alzheimer und lebt im Pflegeheim.
Und Ihre Mutter?
Sie starb 2021 während der Corona-Zeit. Sie war damals schon im Pflegeheim. Und aus dem fröhlichsten Menschen, den ich kannte, wurde während der Pandemie und der daraus resultierenden Einsamkeit, eine lebensmüde Frau, die den ganzen Tag alleine in ihrem Zimmer verbringen musste. Dass sie in jener Zeit gehen musste, tut mir heute noch weh.