Nick Kyrgios gilt als Flegel der Tennisszene. Der Australier provoziert, lässt seiner Lustlosigkeit zuweilen freien Lauf. Alexander Zverev gilt als umstritten, wie flegelhaft er wirklich ist, wissen nur Insider – die Öffentlichkeit kann sich nur ein Bild seiner Beziehungskisten mit Model-Girls machen, aus denen schon unbestätigte Missbrauchsvorwürfe und ein uneheliches Kind hervorgegangen sind. Momentan bildet er mit dem Model und It-Girl Sophia Thomalla ein sogenanntes deutsches Traumpaar.
Dagegen sind die drei gegenwärtigen Superstars der Szene Waisenknaben. Vorzeige-Schweizer Roger Federer sowieso, der spanische Ehrenbürger Rafael Nadal auch – beide sind frei von Skandalen. Einzig Novak Djokovic eckt zuweilen an, indem er zu Pandemie-Zeiten Spassturniere zelebriert oder mit seinen Ausrastern auf dem Platz Linienrichterinnen gefährdet.
Das wars aber auch schon mit der Verruchtheit im heutigen Elite-Tennis. Abgesehen von Wettskandalen, auf die sich manche Tennis-Nobodies und Doppel-Spieler im finanziellen Überlebenskampf einlassen, und Dopingfallen in Medikamenten, in die naive Spieler manchmal treten. Nach aussen hüten die Stars des weissen Sports ihre weisse Weste so gut es geht. Die Tennis Integrity Unit (TUI) und die Weltdoping-Agentur (WADA) sind allgegenwärtig. Und zu Zeiten, wo der Feind mit Handykamera überall lauert und der Shitstorm auf Social Media jeden fertig machen kann, bleibt Revoluzzern sowieso nicht viel Raum für Blödsinn.
Sex, Drugs und Rock ’n’ Roll
Ganz im Gegenteil zu früher. Hätten wir gewusst, was sich John McEnroe, Pat Cash, Vitas Gerulaitis, Yannick Noah und sogar die kühlen Schweden Björn Borg oder Mats Wilander in ihren besten Jahren so geleistet haben – die Sittenpolizei hätte alle Hände voll zu tun gehabt. Wilde Partys, Sexeskapaden und Drogenexzesse waren bei den Besten der Besten an der Tagesordnung – auch während der Turniertage von Wimbledon oder den US Open wohlgemerkt! Teilweise öffentlich in Hotels oder auf den Strassen Londons oder Manhattans.
Das ist kein Geheimnis, die damaligen Stars verarbeiteten ihre Sünden zuhauf in Biografien oder Interviews. So behauptete der Franzose Noah Ende der 70er Jahre, dass Freizeitdrogen auf Tour üblich waren. Er selbst habe Marihuana unmittelbar vor seinen Matches geraucht. Aber der heute 61-jährige French Open-Sieger 1983 – bis heute letzter Grand-Slam-Sieger der stolzen «Grand Nation» – entpuppte sich als Gegner von Alkohol, Kokain und Methamphetamin (auch bekannt als Speed). Verglichen mit gewissen Kumpels auf der Tour, war er harmlos.
Beim Australier Pat Cash (56) begann mit Marihuana die Abwärtsspirale. Bei seinem Debüt in Wimbledon mit 17 Jahren habe er einen Joint in seinem Bett versteckt. «Ich behielt das Ding unter meinem Kissen und küsste es jeden Abend. Das beruhigte mich», gab er mehr als zwanzig Jahre danach in seiner Autobiografie «Uncovered» zu.
Depressionen und Selbstmordgedanken
Als er mit 19 als Weltnummer 6 sein bestes Ranking erreichte, war Cash «Down Under» ein Nationalheld. Aber die Angst vor dem Fall brachte ihn beinahe ums Leben. «Siegen war ein bisschen wie Heroin - es wurde zur Droge, ohne die ich depressiv wurde.» So sehr, dass er sich umbringen wollte. «Denn nach Niederlagen hatte ich das Gefühl, dass mich niemand mehr liebte», so Cash.
Trotz der Marihuana-Sucht wurde Cash 1987 mit 22 Jahren Wimbledonsieger. Richtig schlimm wurde es erst, als es der Rockstar des Tennis mit dem legendären schwarz-weiss-karierten Stirnband dabei nicht beliess. Er litt unter Verletzungen, musste sich an der Bandscheibe operieren lassen und länger mit dem Tennis pausieren. Stattdessen jagte er auf Partys durchs Nachtleben, lernte dort auch seine erste Frau, das norwegische Modell Anne-Britt Kristiansen kennen, griff er zu Kokain und anderen harten Drogen.
Cash wurde zweifacher Vater, die Familie brach auseinander, die privaten Probleme gaben ihm den Rest – in Alkohol- und Kokain-Exzessen schlug er im Rausch der Depression Hotelzimmer kurz und klein. «Das alles half mir, meine Schmerzen und Probleme für mindestens eine Nacht zu vergessen», erinnert sich Cash. «Ich mochte nicht, was mit mir geschah, aber ich konnte es nicht aufhalten.» Nur die Geburt der Zwillinge, die er mit seiner zweiten Frau Emily Bendit bekam, sei der Grund, dass er heute nicht tot sei. Nach einem erfolglosen Comeback begab sich das Ehepaar Cash in eine Entzugsklinik.
McEnroe und Borg im Sumpf
Der gefallene Star kratzte gerade noch die Kurve. Nicht so der Mann, den Cash bewundernd «The Man» nannte, Vitas Gerulaitis. Der Amerikaner, Australian-Open-Sieger 1977, war der Party- und Drogen-König der Szene schlechthin. Bevor er 1994 unter mysteriösen Umständen im Haus eines Freundes angeblich an einer Kohlenmonoxidvergiftung durch eine defekte Klimaanlage starb, zog er auch John McEnroe (62) in seinen Bann.
In seiner Biografie «You Can't Be This Serious» spricht «Big Mac» ausführlich über seine Beziehung zu Marihuana und Kokain. Letzteres habe er nie während Turnieren eingenommen. «Schlaflose Nächte und faule Tage tragen nicht zu einer Tenniskarriere bei», weiss McEnroe. Im unerbittlichen Scheidungskrieg mit US-Schauspielerin Tatum O'Neill kam jedoch vor Gericht heraus, dass er entzündungshemmende Steroide eingenommen hatte.
Der siebenfache Grand-Slam-Sieger stritt stets ab, dass er die Schmerzmittel für den Sporterfolg missbraucht hat, warnt heute aber vor Naivität, die auch ihn auszeichnete. «Sechs Jahre lang wusste ich nicht, dass ich legale Steroide bekam, die bei Pferden verwendet und selbst für die zu stark waren.»
McEnroes erster Rivale Björn Borg (65) war anscheinend nicht besser. Beschuldigt, illegale Drogen eingenommen zu haben, gewann der Schwede zwar Anfang der 90er einen Verleumdungsprozess, der in Folge eines Sorgerechts-Kampfes mit seiner Ex-Freundin Yannick Björling um den gemeinsamen Sohn entstand. Ein Jahr nach dem Prozess versuchte der elffache Major-Champion jedoch, auf die Tour zurückzukehren, verlor aber 12 von 12 Matches, bevor er endgültig aufgab. 1992 gab er zu, dass er in den 80ern diverse Drogen ausprobiert habe – ohne je süchtig gewesen zu sein. Im Buch seiner Ex-Frau Loredana Berte tönt das anders: Laut der Italienerin sei Borg freizügig durch die Strassen Mailands geschlendert und habe Passanten nach Koks gefragt. «Kokain zog er mir immer vor.»
Wilander und andere Dopingsünder
Was bei Borg während der Karriere nie ans Licht kam, war beim schwedischen Nachfolger Mats Wilander der Fall. Der heute 57-Jährige war 1995 der erste Profi, der wegen Kokain-Konsums als Tennis-Dopingsünder in die Geschichtsbücher einging. Weil er beteuerte, die Droge versehentlich – und weit nach der Zeit, in der er sieben Grand-Slam-Titel gewonnen hatte – eingenommen zu haben, wurde Wilander nur zu dreimonatiger Sperre verurteilt.
Die frühere Weltnummer 1 Andre Agassi (51) kam noch glimpflicher davon. Auf dem Tiefpunkt seiner Karriere im Jahr 1997 wurde er positiv getestet und nicht bestraft. Als er Jahre später aber in seiner Biografie «Frankly» (Deutsch: «Geradeheraus») reinen Tisch mit seiner Vergangenheit machte, erklärte der achtfache Grand-Slam-Champ, wie er die ATP-Funktionäre über seinen «Chrystal Meth»-Konsum, «der mich zum Zombie machte», erfolgreich angelogen hatte.
Wie die Doping-Beispiele von Jennifer Capriati und Maria Scharapowa, die ihre Karriere beenden mussten, oder die Sperren von Petr Korda (1998, 1 Jahr), Martina HIngis (2008, 2 Jahre), oder Dan Evans (2017, 1 Jahr) zeigen, ist es heute nicht mehr so leicht, durchs Netz der Dopingwächter zu schlüpfen. Aber es dürfte spannend sein, welche Verruchtheiten uns künftige Autobiografien heutiger Tennisstars eines Tages enthüllen werden.
Dieser Artikel erschien am 2. Januar bereits ein erstes Mal.