Marco, wie sehr nerven Sie die zwei Hundertstel, die Ihnen zum zweiten Podestplatz am Chuenisbärgli fehlten?
Marco Odermatt: Ich bin froh, dass ich diese zwei Hundertstel auf Loïc und nicht auf einen anderen verloren habe. Er hat zuletzt ein paar Mal das Podest ganz knapp verpasst, deshalb gönne ich ihm die erste Top-3-Platzierung dieses Winters von Herzen. Aber es nervt mich ein bisschen, dass ich eine bessere Platzierung bei der Einfahrt in den Steilhang verhauen habe. Diese Passage müsste ich im Griff haben. Aber okay, nun freue ich mich auf Wengen, wo ich nächste Woche erstmals am Start der Lauberhornabfahrt stehen werde.
Lebt es sich in diesen Zeiten entspannter, wenn man wie Sie bereits im November positiv auf Covid-19 getestet worden ist?
Ja, zumindest vor den Heimrennen in Adelboden und Wengen. Bei den Rennen in der Schweiz gilt die Regel, dass alle positiv getesteten Athleten nach ihrer Entlassung aus der Quarantäne drei Monate lang ohne weiteren Test an den Start gehen dürfen. Aber weil wir letzte Woche auf der Reiteralm trainiert haben, mussten wir vor der Einreise nach Österreich einen Schnelltest machen. In unserer Riesenslalom-Gruppe waren alle negativ. Und weil wir uns danach nur in unserer Gruppe aufgehalten haben, konnten wir entspannter miteinander umgehen.
Sie sind auch bekannt dafür, dass Sie im Mannschaftshotel gerne einen Jass klopfen. Wie schwierig ist es für Sie in Corona-Zeiten, eine Jassrunde zusammenzubringen?
In der Riesen-Gruppe ist das kein Problem, weil auch Loïc Meillard und Justin Muriser bereits Corona hatten. Aber bei den Slalomfahrern bringst du derzeit keine Vierer-Runde zusammen, da sind alle verständlicherweise besonders vorsichtig. In Bormio habe ich mit den Speed-Spezialisten gewohnt. Da gibts auch ein paar Kollegen, die aus Angst vor einer Corona-Infektion nicht Karten spielen. Im Endeffekt habe ich dort mit Urs Kryenbühl gejasst, der auch bei diesem Thema locker bleibt. Aber ich verstehe jeden, der jetzt vorsichtig zu Werke geht.
Österreichs Ski-General Peter Schröcksnadl fordert im Weltcup eine Corona-Impfpflicht. Was halten Sie davon?
Eine Impfung hat für mich als Weltcup-Fahrer derzeit nicht besonders hohe Priorität. Zum einen scheint mein Körper mit dem Virus umgehen zu können, wie die überstandene Infektion im November zeigte. Zum andern habe ich wohl noch einen gewissen Immunschutz nach der Infektion. Ein anderes Thema ist die gesamtgesellschaftliche Dimension und Notwendigkeit von Impfungen zur Bekämpfung des Virus.
Lassen Sie uns über eine Zeit reden, in der Corona noch in weiter Ferne war. Stimmt es, dass sie 2006 beim Migros-Grand-Prix-Final in Wengen nicht nur Ihren ersten Sieg auf nationaler Ebene eingefahren, sondern auch zwei Freunde fürs Leben gewonnen haben?
Ja. Ich habe damals den Riesenslalom vor dem Schwyzer Gabriel Gwerder gewonnen. Fabian Bösch aus Engelberg, der heute als Freestyler für Furore sorgt, war Fünfter und hat im Combi-Race-Rennen triumphiert. Seit diesem Tag sind wir drei sehr gute Kollegen. Mit Gabriel lebe ich seit diesem Frühling in einer WG.
Ist Gabriel ausserhalb Ihrer Familie die wichtigste Bezugsperson?
Sagen wir es so: Er ist der Kollege mit der ehrlichsten Reflexion. Begehe ich mal eine Dummheit, gibt es andere Kollegen, die sagen: «Ist doch alles easy, Marco.» Gabriel sagt zu mir: «Marco, so etwas geht gar nicht!» Deshalb gehe ich zu ihm, wenn ich eine ehrliche Meinung benötige. Gabriel freut sich zwar, wenn ich erfolgreich bin. Aber er würde sofort intervenieren, sollte ich plötzlich Starallüren entwickeln. Er hilft mir nur, die Koffer in den dritten Stock hinaufzutragen, wenn ich ein Rennen gewonnen habe (zwinkert mit einem Auge und lacht).
Wie oft treffen Sie Bösch, der letzte Woche mit einem Double-Frontflip von der Sprungschanze in Engelberg für Aufsehen gesorgt hat?
Natürlich nicht so oft wie Gabriel. Aber wenn wir uns begegnen, haben wir es richtig gut zusammen. So wie am letzten Wochenende, als wir zusammen in der Turnhalle in Engelberg gespielt haben.
Haben Sie von Bösch auch ein paar Freestyle-Tricks gelernt?
Ich habe natürlich ein paar Dinge von ihm mitbekommen, beherrsche deshalb auch Basics wie den Backflip einigermassen. Aber von Böschs Können bin ich in dieser Sparte weit entfernt. Vielleicht erinnere ich optisch ein bisschen an einen Freestyler, weil ich meine Haare wieder etwas länger trage. Doch ich überlege mir gerade, ob ich sie abschneiden soll.
Ich bin der Meinung, dass Ihnen die langen Haare sehr gut stehen.
Gut, dann lasse ich sie noch ein bisschen wachsen (lacht).
Marc Berthod trug seine Haare auch länger, als er 2008 als letzter Schweizer den Riesenslalom in Adelboden gewann ...
Ja, und ich fand ihn damals auch wegen seinen längeren Haaren und dem lockeren Erscheinungsbild cool. An seinen Adelboden-Sieg kann ich mich gut erinnern. Ich habe mir wenig später den Arm gebrochen. Und ich weiss noch genau, dass ich nach der Entlassung aus dem Spital zu Hause noch einmal die Aufzeichnung von Berthods Sieglauf in Adelboden sehen wollte. Im Sommer 2009 bin ich Marc dann in Saas Fee begegnet und konnte ein Erinnerungsbild mit ihm machen.
Berthod musste seine Rennfahrerkarriere aufgrund von Knie- und Rückenproblemen relativ früh beenden. Auch Sie mussten in Ihrem jungen Alter schon mehrerer Operationen über sich ergehen lassen. Gehören starke Kniebeschwerden bereits zu Ihrem Alltag?
Nein, zurzeit schränkt mich mein Knie überhaupt nicht ein. Nach der Abfahrt in Bormio spürte ich zwar leichte Schmerzen. Aber das ist wohl darauf zurückzuführen, dass mein Knie die Belastungen einer Abfahrt weniger gut gewöhnt ist als ein Riesenslalom-Schwung.
Aber Sie wurden in den letzten vier Jahren zwei Mal am Meniskus operiert. Besteht da nicht die Gefahr, dass Ihre Knie schon sehr früh gewaltige Abnutzungserscheinungen zeigen werden?
Ich bin kein Mediziner. Aber wenn ich die Aussage meines Arztes richtig verstanden habe, besitze ich überdurchschnittlich viel Meniskussubstanz. Obwohl an meinem rechten Knie ein Drittel vom Meniskus weggeschnitten wurde, besitze ich dort immer noch fast so viel Meniskussubstanz, wie sie ein Mensch im Normalfall ohne Operation hat. Und am linken Knie konnte der Meniskus wieder komplett genäht werden.
In diesem Winter gab es vor allem bei der Abfahrt in Bormio einige furchterregende Stürze. Sie feierten dort mit Startnummer 31 als Zwölfter Ihr bestes Abfahrtsergebnis. Andere Fahrer haben nach dem Rennen offenbart, dass sie am Start ein mulmiges Gefühl hatten. Wie war das bei Ihnen?
Obwohl die Abfahrt in Bormio deutlich mehr Schwierigkeiten beinhaltet, hatte ich in diesem Jahr in Gröden das mulmigere Gefühl. Klar, in Bormio bin ich im Gegensatz zur Saslong schon vor zwei Jahren gefahren. Aber in Gröden gibt es extrem viele Sprünge, da gehst du in einem Lauf ungefähr 15-mal in die Luft. Dementsprechend gross ist die Chance, dass du als Rennfahrer mit nur wenig Erfahrung in dieser Disziplin irgendwann in Rücklage kommst. Deshalb war ich vor meiner ersten Trainingsfahrt nervöser als sonst. Zum Glück ging alles gut. Aber ich habe nach Gröden entschieden, dass ich künftig in den Speed-Disziplinen mit Airbag fahre. In Bormio habe ich ihn erstmals getragen und durfte die Erfahrung machen, dass man bezüglich Aerodynamik und Bewegungsfreiheit überhaupt nicht eingeschränkt ist.
Wissen Sie, wie viele Athleten im Weltcup mit Airbag fahren?
Bei den Männern sind es meines Wissens 40 Prozent. Im Schweizer Team sind es neben mir Urs Kryenbühl, Ralph Weber und Stefan Rogentin.
Gibt es eigentlich eine Sparte, in der das alpine Top-Talent Marco Odermatt talentfrei ist?
Ich bin ein lausiger Sänger, ein schlechter Verlierer und ein katastrophaler Tänzer. Letzteres ist darauf zurückzuführen, dass ich viel zu selten im Ausgang bin.
Sie werden im Ski-Zirkus als Athlet mit dem grössten Vermarktungspotenzial gehandelt. Welchen Luxus gönnen Sie sich bereits?
Ich gönne mir derzeit wirklich null Luxus. Ich wohne wie schon angesprochen in einer Wohngemeinschaft, die mich im Monat 400 Franken kostet. Und wenn ich in die Ferien gehe, dann passe ich mich dem Budget meiner Kollegen an, die derzeit ein Studium absolvieren und entsprechend wenig Geld zur Verfügung haben. Ich spare zurzeit, damit ich mir eines Tages vielleicht ein schönes Haus leisten kann.
Hatten Sie seit seinem Rücktritt im Herbst 2019 noch einmal Kontakt mit Marcel Hirscher?
Ich war vor dem Riesenslalom in Alta Badia auf der Reiteralm, als Marcel ein paar Läufe mit dem ÖSV-Team absolvierte, was ja anschliessend in den Medien heiss diskutiert wurde. Ich habe an diesem Tag knapp zwei Minuten mit Marcel gesprochen.
Viel zu reden gab vor gut zwei Jahren auch ein Hirscher-Zitat über den jungen Marco Odermatt. Nachdem der achtfache Gesamtweltcupsieger Sie als «kommenden Superstar» angepriesen hat, sagte ihr Vater: «Das sind blöde Worte!» War die Huldigung des grossen Hirscher damals eine Belastung für Sie?
Nein, ich habe das als Kompliment aufgefasst. Und mein Vater hat das damals auch nicht so gemeint, wie er es ausgesprochen hat. Mein Daddy und Marcel haben sich kurz darauf in Garmisch darüber unterhalten, das Missverständnis war bei dieser Gelegenheit in fünf Minuten aus der Welt geschafft.